Weltwoche, 26. April 2012, von Rico Bandle
Eine ernsthafte Angelegenheit
Dank Viktor Giacobbo ist das Casinotheater Winterthur zum Epizentrum des Schweizer Humors geworden. In dem Haus fühlt sich Oswald Grübel ebenso wohl wie Moritz Leuenberger. Alles lustig? Keineswegs, wie ein Blick hinter die Kulissen zeigt.Manchmal, da zieht es Viktor Giacobbos Mundwinkel auseinander, die Backen schwellen an, er versucht sich dagegen zu wehren, vergeblich. Es sind die seltenen Momente, in denen der Kontrollfanatiker und geübte Schauspieler für kurze Zeit die Beherrschung über seine Mimik verliert: «Wir sind nichts anderes als ein KMU», sagt er dann stolz und betont, dass sein Casinotheater keine Subventionen erhalte, dass der Betrieb bis zu siebzig Mitarbeiter beschäftige, sieben Lehrlinge ausbilde und weit über die Landesgrenze hinaus bewundert werde.
Der bekannteste Komiker der Schweiz hat allen Grund, stolz zu sein: Das Casinotheater feiert in diesen Tagen sein Zehn-Jahr-Jubiläum. Das Haus ist nicht nur innert kürzester Zeit zur bedeutendsten Unterhaltungsbühne des Landes geworden, sondern auch zum Anziehungspunkt für Wirtschaftskapitäne, TV-Bekanntheiten und Politiker: ein Opernhaus im Kleinformat, allerdings ungezwungener, ganz ohne Dresscode. 70 000 Personen besuchen jährlich eine Vorstellung in dem Haus in der Winterthurer Altstadt, knapp 10 Millionen Franken setzt der Betrieb pro Jahr um, 4,5 Millionen Franken davon mit dem Theater, den Rest im Event- und Gastronomiebereich.
Ein Haufen von Selbstdarstellern
Das Besondere an dem Unternehmen: Das Gebäude gehört den Künstlern, sie sind allein für den Betrieb verantwortlich. Zu den Aktionären gehören Branchengrössen wie Patrick Frey, Kurt Felix, Mike Müller, Fredy Knie, Walter Andreas Müller oder Ursus und Nadeschkin. Aufgrund seiner schillernden Aktionäre werden die Casino Theater AG und die Casino Immobilien AG gerne als «die lustigsten Aktiengesellschaften der Schweiz» bezeichnet, und Giacobbo kokettiert damit, dass er der einzige Verwaltungsratspräsident sei, der zugebe, ein Komiker zu sein. Dies tönt amüsant, hat mit der Realität aber wenig zu tun.
So zuverlässig auf der Bühne die Pointen fallen, so ernsthaft und diszipliniert geht es hinter den Kulissen zu und her. Die kürzeste Generalversammlung der beiden Aktiengesellschaften wurde in knapp dreissig Minuten abgehalten; die Abläufe sind strikt, lange Diskussionen selten, Aufstände unzufriedener Aktionäre gab es bisher keine. Nur einmal sorgte ein Vorfall für Heiterkeit: als Patrick Frey, Verwaltungsratspräsident der Immobilien AG, die um zehn Uhr beginnende Generalversammlung verschlafen hatte. Die Disziplin ist in diesem aussergewöhnlichen Betrieb essenziell: Nur dadurch kann dieser Haufen an starken Egos und Selbstdarstellern zusammengehalten werden, nur dadurch konnte dieses kleine Schweizer Theaterwunder Realität werden.
Als Viktor Giacobbo 1999 mit seinem langjährigen Weggefährten Rolf Corver an dem baufälligen Casino-Gebäude im Zentrum Winterthurs vorbeispazierte, stehenblieb und die Idee äusserte, das Haus wieder zum Leben zu erwecken, war für ihn klar: Das funktioniert nur, wenn er die wichtigen Vertreter der Schweizer Komikerszene mit ins Boot holt. Er griff zum Telefon, versuchte Patrick Frey, die Acapickels, Walter Andreas Müller und viele mehr von seinem Ansinnen zu überzeugen – fast alle waren begeistert. Patrick Frey erinnert sich noch gut an den Anruf. «Ich war ziemlich ungläubig: Das Gebäude befand sich in einem miserablen Zustand, das Restaurant war furchtbar schmuddelig. Viktor schlug vor, das Haus der Stadt abzukaufen. Ich zögerte keinen Augenblick, sagte sofort zu.» Frey wurde neben Giacobbo zum grössten Einzelaktionär. Wie viel sie investiert haben, wollen sie nicht sagen.
Der Stadt Winterthur kam Giacobbos Angebot gerade recht: Mehrere Projekte zur Sanierung des Gebäudes waren zuvor aus Kostengründen gescheitert. Sie bot Giacobbo das Haus für symbolische 300 000 Franken an und stellte ein zinsloses Darlehen von zwei Millionen Franken in Aussicht. Unter der Voraussetzung allerdings, dass das Theater bei der Stadt nie Subventionen beantragen werde. Alle grösseren politischen Gruppierungen befürworteten den Deal. Einzelne SVP-Exponenten um den heutigen Nationalrat Alfred Heer ergriffen allerdings das Referendum – gegen den Willen der Partei. Auf den Plakaten stand mit grossen Lettern: «Millionengeschenk für die Linksreichen». Doch Heer hatte gegen den beliebten Komiker keine Chance: Am 21. Mai 2000 sagten 73,3 Prozent der Winterthurer ja zum Verkauf. Heute lobt Heer «grundsätzlich» das Casinotheater, das Referendum sei aber trotzdem nötig gewesen. Giacobbo liess ein «Linksreichen»-Plakat einrahmen, es hängt an einem Ehrenplatz im ersten Stock des Hauses.
Machtspiel unter Komikern
Schon vor der ersten Vorstellung stiess das Haus schweizweit auf eine enorme Sympathiewelle. Giacobbo profitierte von seiner TV-Popularität, alle wollten mit dabei sein. Der Herdentrieb erfasste nicht nur die Künstler: Wirtschaftsleute wie Peter Spuhler (Stadler Rail), Fred Kindle (Ex-ABB) oder der Bankier Thomas Matter unterstützten das Projekt, Politiker zeigten sich begeistert, die Bevölkerung riss sich um Eintrittskarten. Sämtliche Vorstellungen der ersten Eigenproduktion, «Die Eröffnung», waren schon vor der ersten Probe ausverkauft. «Die Künstler waren von einer Euphorie getrieben, man glaubte, nichts falsch machen zu können», erinnert sich der damalige künstlerische Leiter Andrej Togni. «Die Eröffnung» wurde zu einem seltsamen bunten Abend, ein Jekami der bekanntesten Schweizer Künstler, die alle ihren kurzen Auftritt hatten: von Beni Thurnheer bis zum Chaostheater Oropax, von Joachim Rittmeyer bis zu den Acapickels, moderiert wurde das Ganze von Giacobbo und Frey. Kaum jemand wagte, diese von Kompromiss und Konsens geprägte Produktion zu kritisieren. Dabei war sie der eindrückliche Beweis dafür, dass viele grosse Namen kein Garant für eine gute Vorstellung sind.
Trotzdem wurden noch mehrere solcher All-Star-Produktionen auf die Bühne gebracht, auf die auch Viktor Giacobbo skeptisch zurückblickt: «Das waren zum Teil Klamaukvorstellungen, die mal mehr, mal weniger gelungen waren.» Zwar kamen die Zuschauer noch immer in Scharen, doch das vorauseilende Wohlwollen nahm ab. «Die beteiligten Künstler wollten auf der Bühne in erster Linie ihre eigene Haut retten», erzählt ein dem Casinotheater nahestehender Komiker. Wenn schon die Produktion nicht überzeugte, waren die Darsteller umso mehr bemüht, wenigstens selbst so gut wie möglich dazustehen – was der Situation nicht zuträglich war.
«Es war der Anfangsirrtum, dass einige Künstler meinten, eine Aktie sei ein Garantieschein, um auf der Bühne präsent zu sein», sagt Viktor Giacobbo. In einem Haus, in dem so viele Leute Ansprüche anmelden, sind harte Entscheidungen unerlässlich. Doch wer hat im Casinotheater tatsächlich das Sagen? Für den Spielplan und die Gastspiele ist der künstlerische Leiter zuständig, über die zwei jährlichen Eigenproduktionen bestimmt eine Stückauswahlgruppe, bestehend aus der Kerngruppe der Künstler. Dazu gibt es noch einen künstlerischen Beirat, dem sämtliche Künstleraktionäre angehören, ein «Operettengremium», wie Giacobbo sagt. Und für den Geschäftsbetrieb insgesamt ist der CEO verantwortlich.
Der Handlungsspielraum des künstlerischen Leiters ist in einem solchen Konstrukt beschränkt. Das musste auch Andrej Togni erfahren, der als Erster diese Position besetzte: «In diesem undurchsichtigen Spiel der Mächte war es nicht leicht, meine Rolle zu finden, ich fühlte mich manchmal richtig verheizt.» Togni, ein erfahrener Theatermann, beging einen kolossalen Fehler: Er versuchte gegen die Kerngruppe um Giacobbo, Frey und Mike Müller Widerstand zu leisten. Der Streit eskalierte, als Togni die Aufführung von Freys Kinderstück «Wyss wie Schnee» ablehnte. Giacobbo sprach ein Machtwort, das Stück kam auf den Spielplan, Togni verliess das Casinotheater. «Wenn die Mehrheit der Künstleraktionäre anderer Meinung ist als der künstlerische Leiter, so ergibt eine weitere Zusammenarbeit keinen Sinn», sagt Viktor Giacobbo.
Thiel in Champagnerlaune
Die Stückauswahlgruppe entscheidet demokratisch und weist manchmal auch Projekte renommierter Autoren zurück. Einmal lehnte sie ein Stück von Charles Lewinsky ab, der sich als Aktionär der ersten Stunde für das Theater engagiert hatte. «Das sind ganz normale Entscheidungen, wie sie in jedem Theater vorkommen», sagt Lewinsky. Obwohl er sich mittlerweile vom Casinotheater und der Komik entfernt hat, ist er des Lobes voll für das Haus: «Was Giacobbo mit dem Theater erreicht hat, ist noch höher einzuschätzen als seine Leistung im Fernsehen», sagt er. Würde es die Stückauswahlgruppe auch wagen, sich einem Vorschlag Giacobbos zu widersetzen? Er selbst glaubt schon. «Ein eigenes Stück von mir wurde zwar noch nie abgelehnt, aber ich habe schon oft Ideen vorgebracht, die die Mehrheit verworfen hat», sagt er.
Im Casinotheater galt von Anbeginn der Grundsatz: An erster Stelle stehen die auftretenden Künstler. Auch darum gehört das Theater im deutschsprachigen Raum zu den begehrtesten Auftrittsorten. Allerdings musste der Grosszügigkeit rasch Grenzen gesetzt werden. Nachdem der Satiriker Andreas Thiel und sein damaliger Bühnenpartner Wolfram Berger drei Tage lang von der freien Konsumation im Restaurant ausgiebig Gebrauch gemacht und reihenweise Champagnerflaschen geleert hatten, wurde eine Limite eingeführt.
Einschneidender war der inhaltliche Lernprozess. «Ursprünglich war geplant, das Casinotheater als Überraschungshaus zu positionieren», sagt der Kabarettist Joachim Rittmeyer. Dies erwies sich als Wunschvorstellung: Der ökonomische Druck lässt kaum Experimente zu. «Eine schlecht besuchte Eigenproduktion kann das Haus gleich in eine Schieflage bringen», sagt Giacobbo. «Die Preisverleihung», ein Stück von und mit Joachim Rittmeyer und Patrick Frey, zeigte 2009 knallhart die Grenzen des Projekts Casinotheater auf: Die beiden Komiker liessen im ersten Teil des Stückes nur die Hälfte des Publikums in den Theatersaal, die andere musste draussen warten und wurde mit einem Notprogramm verköstigt. Eine Provokation, die vom Publikum nicht goutiert wurde: Im Durchschnitt blieb über die Hälfte der Plätze leer, in der Kasse klaffte ein riesiges Loch. Diese Erfahrung erschütterte das Selbstverständnis der erfolgsverwöhnten Künstler. Es war ein klares Signal: Das Casinotheater ist kein Selbstläufer. Will man langfristig bestehen, muss man sich konsequent dem Publikumsgeschmack anpassen.
Gab Andrej Togni noch acht, nicht mit Komikern wie den Schmirinskis oder einem Peach Weber in Verbindung gebracht zu werden, so hat man heute keine Berührungsängste mehr. «Wir können es uns nicht leisten, ein zu enges Programm zu fahren und einige Stile auszugrenzen», sagt Patrick Frey. «Heute sind die Grenzen zwischen Comedy und Kabarett ohnehin nicht mehr so scharf wie noch vor zehn Jahren.»
Ganz subventionsfrei, wie Giacobbo betont, ist das Casinotheater allerdings nicht. So erhielt es zum Beispiel vom Zürcher Lotteriefonds eine Million Franken für den Umbau, nun ist wieder ein Gesuch hängig. Im Gespräch nimmt Giacobbo eine erstaunlich defensive Haltung ein. Wiederholt sieht er sich genötigt, Kritik zu widerlegen, die gar nicht geäussert wurde. Zum Beispiel, er sei ein Mafiaboss, der die gesamte Kabarettszene fest im Griff habe. «Wenn dem so wäre, wäre ich ein miserabler Mafioso; bisher habe ich nur Geld investiert und keines zurückbekommen.»
Dass Giacobbo die mächtigste Figur im Schweizer Humor ist, ist unbestritten. Er kann Künstler mit Einladungen in seine TV-Sendung «Giacobbo/Müller» bekanntmachen, und er kann ihnen eine Auftrittsmöglichkeit im Casinotheater vermitteln, der führenden Kabarettbühne der Schweiz. Von diesen Möglichkeiten macht er gerne Gebrauch. Alle paar Jahre wird ihm dies von einem Journalisten vorgeworfen. Was die Kritiker ausblenden: Macht ist erst dann ein Problem, wenn sie missbraucht wird. Giacobbo kann man einiges vorwerfen – Dünnhäutigkeit, eine gewisse Selbstgefälligkeit, manchmal mässig lustige TV-Sendungen –, aber sicher keinen Machtmissbrauch. Im Gegenteil: Niemand betreibt so viel Nachwuchsförderung wie er, niemand hat so viel für die Szene getan, niemand versteht es, so viele unterschiedliche Künstler und potenzielle Geldgeber zusammenzubringen.
Das Casinotheater Winterthur ist zum wahren Schweizer Volkstheater geworden, einem Ort, wo Oswald Grübel, Moritz Leuenberger und ganz normale Besucher Seite an Seite ungezwungen ein Glas Wein trinken können. Ein Kulturbetrieb mit einer grösseren Ausstrahlung als manch ein hochsubventioniertes Haus. Giacobbo ist sich bei aller Zurückhaltung bewusst, wessen Verdienst das ist. Trotzdem gibt es Dinge, die ihm in seinem Theater missfallen. Schuld daran ist auch sein anderer Arbeitgeber, das Schweizer Fernsehen: «Wenn ich bei einer unserer Kabarettpremieren aus der Vorstellung komme und mir dann jemand von ‹Glanz & Gloria› das Mikrofon vor den Mund hält und fragt: ‹Herr Giacobbo, färben Sie die Eier selbst an Ostern?›, werde ich richtig zickig.»