Viktor Giacobbo

Der Schweizer Komiker Viktor Giacobbo spricht über die absurde WC-Papier-Hamsterei, seinen Umgang mit der Abschottung und weshalb jetzt zu viel gepredigt wird.

Er wirkt gut gelaunt, Komiker Viktor Giacobbo, der das Interview wegen der Corona-Krise von zu Hause aus per Skype führen möchte. «Ich habe wenig Mühe damit, abgeschottet zu sein», sagt er, dem neuerdings um den Mund ein wohlgetrimmter Bart wächst. Wenn er mitbekomme, was Eltern mit schulpflichtigen Kindern zurzeit durchmachten, so müsse er sagen: «Ich war noch nie so froh, keine Kinder zu haben.»

Sie gehören mit 68 Jahren zur Risikogruppe. Haben Sie genug WC-Papier auf Lager?

Der WC-Papier-Rush ist der absurdeste Teil dieser Krise, man mag ja gar keine Witze mehr darüber machen. Vor zwei Tagen waren die WC-Papier-Gestelle in der Migros noch immer leer. Es wird schneller weggekauft als produziert.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Es ist mir zu blöd, mich damit zu beschäftigen.

Zu beobachten, wie die Leute in der Krise reagieren, ist aber doch interessant?

Auf jeden Fall. In vielen Kulturen wird der Hintern ja seit jeher mit Wasser gewaschen. Was auch sinnvoll und hygienisch ist. Wir, die Speerspitze der westlichen Zivilisation, verstreichen lieber die Scheisse mit trockenem Papier. Ich frage mich: Was denken die Leute im asiatisch-arabischen Raum über die WC-Papier-Hamsterei bei uns? Das muss doch für die wahnsinnig lustig sein! Das Kreuz als wichtigstes Symbol des christlichen Abendlands wird in einer Krise offenbar durch die WC-Rolle ersetzt.

Verlassen Sie Ihre vier Wände noch?

Ja. Ich gehe einkaufen, biken, und ich kenne drei Leute, die das Virus schon hatten und jetzt immun sind.

Diese Leute laden Sie nun ständig ein?

Nein, sie haben mich eingeladen. Obschon eigentlich keine Gefahr auf Ansteckung besteht, halten wir Distanz. Man muss gewisse Regeln nun einfach respektieren, fertig. Auch so banale Verrichtungen wie die Hände zu waschen, wenn man nach Hause kommt. Das habe ich zwar schon vorher gemacht, nun aber mache ich es als korrekter Staatsbürger. Allerdings gebe ich mir Mühe, nicht den ganzen Tag über diese Regeln nachzudenken und auch nicht ständig Corona-News zu lesen.

Es gibt gar keine anderen News mehr.

Aber es gibt Netflix. Und Bücher. Eben ist der dritte Band von Hilary Mantels Trilogie über Thomas Cromwell herausgekommen: «The Mirror & the Light», ein tausendseitiger spannender historischer Roman über die Tudor-Zeit.

Weil beim Coronavirus vor allem ältere Leute betroffen sind, redet man nun von «Altersdiskriminierung».

Und was ist die Frage?

Fühlen Sie sich diskriminiert?

Nein. Ich gehöre auch nicht zu den besonders Gefährdeten. Ich bin zwar alt, aber gesund, fühle mich fit. Wenn man aber so will, sind die vielgescholtenen weissen alten Männer durch Corona multidiskriminiert. Vielleicht sorgt da Corona für eine gewisse Gerechtigkeit und ruft uns zu: «Okay, Boomer.»

Sollten wir vielleicht sogar froh darüber sein, dass die Männer durch Corona stärker betroffen sind? Man stelle sich den Aufruhr vor, wenn es umgekehrt wäre.

Vielleicht ist Corona eine Verschwörung von jungen Frauen? Wir leben ja in einer Zeit von dubiosen Gerüchten und Verschwörungstheorien, was unterhaltsam ist, aber auch gefährlich. In Sachen Corona-Krise am gefährlichsten sind allerdings einige Staatschefs, zum Beispiel der Pausenclown von Weissrussland, Alexander Lukaschenko, Bolsonaro in Brasilien und Donald Trump in den USA.

Machen Sie sich Gedanken darüber, was Sie in der Sendung bringen würden, wenn Sie sie noch hätten?

Nein. Aber ich schaue andere Sendungen, die das sehr gut machen. Allen voran Trevor Noah, den ich grandios finde. Jetzt produziert er seine «Daily Show» von zu Hause aus. Er kommentiert das Geschehen, ist sehr Trump-kritisch, aber auf eine selbstironische Art. Noah ist noch immer ein Entertainer und nicht ein Prediger, so wie viele andere Satiriker in diesen Tagen.

Auch Trevor Noah ist sehr moralisch, weiss stets ganz genau, was richtig und was falsch ist.

Natürlich. Jeder, der Satire macht, hat einen moralischen beziehungsweise einen politischen Standpunkt. Die Frage ist, wie man diesen Standpunkt rüberbringt: ob auf eine unterhaltende oder eine belehrende Art. Leider tendiert meine Branche zurzeit stark zum Belehrenden.

Viele Komiker tun zurzeit tatsächlich so, als seien sie vom Bundesamt für Gesundheit angestellt. Sie fordern die Leute dazu auf, sich richtig zu verhalten. Ist das noch lustig?

Wenn ich jetzt noch einen Promi sehe, der mir per Instagram erklärt, wie ich die Hände waschen soll, frage ich mich, ob mein Publikum auch so dumm ist, dass es das immer noch nicht weiss. Am Anfang war das toll, dass auf allen Kanälen auf die Regeln hingewiesen wurde. Wir Satiriker waren noch nie so regierungstreu wie heute, ich eingeschlossen. Wir haben ja jetzt nicht gerade die übelste Regierung – und vor allem haben wir die coole Epidemie-Ikone, Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit. Wegen seiner trockenen Überzeugungskraft kann man ihn gleich zum Bundesrat machen. Der könnte sagen: «Nehmt jetzt zur Kenntnis, die Erde ist eine Scheibe», und alle würden es ihm glauben. Nur Roger Köppel würde behaupten, er hätte das schon immer gewusst.

Wo liegt das Komik-Potenzial, wenn man so regierungstreu ist? Jene ins Lächerliche ziehen, die nicht zu hundert Prozent auf Linie sind?

Einige kann man nicht ins Lächerliche ziehen, weil sie dort schon sind. Man kann sich allerdings über die eigene Staatstreue lustig machen. Selbstironie gefällt mir besser, als wenn man einfach die Botschaft von Alain Berset wiederholt, auch wenn man mit dieser einverstanden ist.

Könnte man Daniel Koch auf lustige Art imitieren?

Klar. Kürzlich hat mir jemand geschrieben, vom Äusseren her sei ich geeignet dafür – wenn ich noch ein bisschen kahler und dünner werde. Ich bin sicher, die Koch-Imitationen werden bald kommen. Das ist auch gut so: Imitiert zu werden, ist ein Kompliment.

Die Komiksendungen im Fernsehen finden nun ohne Livepublikum statt, also auch ohne Lacher. Es fehlt etwas.

Das ist nur darum ein Problem, weil sich das Fernsehpublikum an die Lacher gewöhnt hat. Und zwar nicht an die normalen Lacher wie im Theater, sondern an die Fernsehlacher, die fast immer verstärkt sind. Bei «Giacobbo/Müller» haben wir uns bis am Schluss dagegen gewehrt, die Lacher künstlich einzuspielen. Damit waren wir unter den Late Night Shows aber die einzigen weit und breit.

Das rächt sich jetzt?

Ja, man vermisst die Lacher umso mehr. Auch bei Trevor Noah denke ich manchmal, wieso lacht jetzt keiner. Bis mir bewusst wird, er sitzt ja alleine in seiner Wohnung.

«Ich sehe keinen Anlass, weshalb wir uns an den jetzigen Zustand gewöhnen sollten.»

Könnten sich die Leute nun daran gewöhnen, dass es keine Lacher gibt und sie wieder selber merken müssen, wann etwas lustig ist?

Weshalb sollten sie? Wir freuen uns alle darauf, dass die Theater, Kinos und Fernsehstudios bald wieder mit Publikum gefüllt sind und wir gemeinsam lachen können. Miteinander zu lachen ist schöner als alleine, das gilt im Fernsehen wie im Theater oder auch privat. Ich sehe keinen Anlass, weshalb wir uns an den jetzigen Zustand gewöhnen sollten.

Leer ist zurzeit auch das Casinotheater Winterthur. Was haben Sie gedacht, als am 13. März der Bundesrat die Schliessung verordnete?

Wir hatten diesen Entscheid erwartet, deshalb waren wir vorbereitet. Damals wurden ja Veranstaltungen ab fünfzig Leuten verboten. Wir diskutierten kurz darüber, ob wir Vorstellungen für 50 Zuschauer durchführen und das Restaurant mit reduziertem Betrieb offen halten sollten. Diese Idee haben wir aber ziemlich schnell verworfen und das Haus ganz geschlossen – noch vor dem entsprechenden Bundesratsentscheid.

Man hört, das Casinotheater habe eine Pandemieversicherung – wohl als eine der ganz wenigen Firmen der Schweiz. Wie kommt das?

Wir waren selber überrascht. Wahrscheinlich war dies von Anfang an in unserer Versicherungsdeckung drin, also seit 20 Jahren. Als wir letztes Jahr von der Axa zur Mobiliar gewechselt haben, wurde dieser Passus übernommen. Dank der Versicherung, der Kurzarbeit und unseren engagierten Aktionären und Freunden wird die Krise etwas abgefedert.

Sie könnten also noch lange durchhalten?

Was heisst durchhalten? Bis wir noch mehr Kredite aufnehmen müssen? Bis der Konkurs droht? Wir rechnen nun damit, dass wir möglichst bald den Betrieb langsam wieder hochfahren können. Anfangs vielleicht nur das Restaurant, später dann das Theater. Für unser unsubventioniertes Theater-Gastronomie-KMU ist es eine Katastrophe, auch wenn andere viel stärker betroffen sind, vor allem die selbstständigen Künstler, aber auch der Circus Knie.

Sie sind mit der Familie Knie befreundet, hatten Sie in den letzten Wochen Kontakt zu ihr?

Ja, ich war an einer Probe zum neuen, wieder grossartigen Programm – unter andern mit Ursus & Nadeschkin. Nun gerät die ganze Tourneereihenfolge durcheinander. Die Knies wissen nicht, wann und wo sie beginnen können und ob der wichtige Sechseläutenplatz – wo der Circus sonst den ganzen Mai steht – zu einem späteren Zeitpunkt noch so verfügbar sein wird.

Könnte der Circus Knie den Ausfall einer ganzen Saison verkraften?

Das weiss ich nicht, das müssen Sie die Familie Knie fragen. Sicher wäre das sehr einschneidend.

Wenn man sieht, was der Lockdown für Ihre Branche auslöst – die Einnahmen fallen vielerorts auf null –, hadert man da umso mehr mit den Entscheidungen des Bundesrats?

Nein, der Bundesrat ist ja nicht schuld – auch nicht die EU oder die Ausländer. Das verdammte Virus ist schuld. Natürlich kann ich es kaum erwarten, dass das alles endlich wieder hochgefahren wird. Aber nicht, weil die Politik dies so entscheidet, sondern weil der Verlauf der Epidemie es ermöglicht. Hierfür müssen wir uns auf die Wissenschaft verlassen.

Sie sind auch Aktionär und im Verwaltungsrat des Buchverlags Kein & Aber. Profitiert der in der Krise, weil die Leute mehr lesen und Bücher online bestellen?

Das haben wir am Anfang gehofft. Aber leider ist dies bisher nicht der Fall, wir sind nicht Kriegsgewinnler. Auch wenn der Verlag in guter Verfassung ist, leiden wir wie alle andern auch.

Durch Homeoffice, Kinderbetreuung, et cetera kommen die Leute noch weniger zum Lesen als sonst?

Für mich gilt das nicht. Ich lese viel, schreibe, kommuniziere digital und schaue Netflix. Man findet dort herausragende Serien wie «Better Call Saul» oder «Ozark». Hauptsache, man befreit sich zwischendurch vom pausenlosen Corona-News-Feed!

«Wir Satiriker waren noch nie so regierungstreu wie jetzt»

5. April 2020, SonntagsZeitung, von Rico Bandle

Der Schweizer Komiker Viktor Giacobbo spricht über die absurde WC-Papier-Hamsterei, seinen Umgang mit der Abschottung und weshalb jetzt zu viel […]

Dank Viktor Giacobbo ist das Casinotheater Winterthur zum Epizentrum des Schweizer Humors   geworden. In dem Haus fühlt sich Oswald Grübel ebenso wohl wie Moritz Leuenberger. Alles   lustig? Keineswegs, wie ein Blick hinter die Kulissen zeigt.Manchmal, da zieht es Viktor Giacobbos Mundwinkel auseinander, die Backen schwellen an, er versucht sich dagegen zu wehren, vergeblich. Es sind die seltenen Momente, in denen der Kontrollfanatiker und geübte Schauspieler für kurze Zeit die Beherrschung über seine Mimik verliert: «Wir sind nichts ­anderes als ein KMU», sagt er dann stolz und betont, dass sein Casinotheater keine Sub­ventionen erhalte, dass der Betrieb bis zu ­siebzig Mitarbeiter beschäftige, sieben Lehrlinge ausbilde und weit über die Landesgrenze hinaus bewundert werde.

Der bekannteste Komiker der Schweiz hat allen Grund, stolz zu sein: Das Casinotheater feiert in diesen Tagen sein Zehn-Jahr-Jubi­läum. Das Haus ist nicht nur innert kürzester Zeit zur bedeutendsten Unterhaltungsbühne des Landes geworden, sondern auch zum Anziehungspunkt für Wirtschaftskapitäne, TV-Bekanntheiten und Politiker: ein Opernhaus im Kleinformat, allerdings ungezwungener, ganz ohne Dresscode. 70 000 Personen besuchen jährlich eine Vorstellung in dem Haus in der Winterthurer Altstadt, knapp 10 Millionen Franken setzt der Betrieb pro Jahr um, 4,5 Millionen Franken davon mit dem Theater, den Rest im Event- und Gastronomiebereich.

Ein Haufen von Selbstdarstellern

Das Besondere an dem Unternehmen: Das Gebäude gehört den Künstlern, sie sind allein für den Betrieb verantwortlich. Zu den Aktionären gehören Branchengrössen wie Patrick Frey, Kurt Felix, Mike Müller, Fredy Knie, Walter Andreas Müller oder Ursus und Nadesch­kin. Aufgrund seiner schillernden Aktionäre werden die Casino Theater AG und die Casino Immobilien AG gerne als «die lustigsten Aktiengesellschaften der Schweiz» bezeichnet, und Giacobbo kokettiert damit, dass er der einzige Verwaltungsratspräsident sei, der ­zugebe, ein Komiker zu sein. Dies tönt amüsant, hat mit der Realität aber wenig zu tun.

So zuverlässig auf der Bühne die Pointen ­fallen, so ernsthaft und diszipliniert geht es hinter den Kulissen zu und her. Die kürzeste Generalversammlung der beiden Aktiengesellschaften wurde in knapp dreissig Minuten abgehalten; die Abläufe sind strikt, lange Diskussionen selten, Aufstände unzufriedener Aktionäre gab es bisher keine. Nur einmal sorgte ein Vorfall für Heiterkeit: als Patrick Frey, Verwaltungsratspräsident der Immobilien AG, die um zehn Uhr beginnende Generalversammlung verschlafen hatte. Die Disziplin ist in diesem aussergewöhnlichen Betrieb essenziell: Nur dadurch kann dieser Haufen an starken Egos und Selbstdarstellern zusammengehalten werden, nur dadurch konnte dieses kleine Schweizer Theaterwunder Realität werden.

Als Viktor Giacobbo 1999 mit seinem langjährigen Weggefährten Rolf Corver an dem baufälligen Casino-Gebäude im Zentrum Winterthurs vorbeispazierte, stehenblieb und die Idee äusserte, das Haus wieder zum Leben zu erwecken, war für ihn klar: Das funktioniert nur, wenn er die wichtigen Vertreter der Schweizer Komikerszene mit ins Boot holt. Er griff zum Telefon, versuchte Patrick Frey, die Acapickels, Walter Andreas Müller und viele mehr von seinem Ansinnen zu überzeugen – fast alle waren begeistert. Patrick Frey erinnert sich noch gut an den Anruf. «Ich war ziemlich ungläubig: Das Gebäude befand sich in einem miserablen Zustand, das Restaurant war furchtbar schmuddelig. Viktor schlug vor, das Haus der Stadt abzukaufen. Ich zögerte keinen Augenblick, sagte sofort zu.» Frey wurde ­neben Giacobbo zum grössten Einzelaktionär. Wie viel sie investiert haben, wollen sie nicht sagen.

Der Stadt Winterthur kam Giacobbos Angebot gerade recht: Mehrere Projekte zur Sanierung des Gebäudes waren zuvor aus Kostengründen gescheitert. Sie bot Giacobbo das Haus für symbolische 300 000 Franken an und stellte ein zinsloses Darlehen von zwei Millionen Franken in Aussicht. Unter der Voraussetzung allerdings, dass das Theater bei der Stadt nie Subventionen beantragen werde. Alle grös­seren politischen Gruppierungen befürworteten den Deal. Einzelne SVP-Exponenten um den heutigen Nationalrat Alfred Heer ergriffen allerdings das Referendum – gegen den Willen der Partei. Auf den Plakaten stand mit grossen Lettern: «Millionengeschenk für die Linksreichen». Doch Heer hatte gegen den beliebten Komiker keine Chance: Am 21. Mai 2000 sagten 73,3 Prozent der Winterthurer ja zum Verkauf. Heute lobt Heer «grundsätzlich» das Casinotheater, das Referendum sei aber trotzdem nötig gewesen. Giacobbo liess ein «Linksreichen»-Plakat einrahmen, es hängt an einem Ehrenplatz im ersten Stock des Hauses.

Machtspiel unter Komikern

Schon vor der ersten Vorstellung stiess das Haus schweizweit auf eine enorme Sympathiewelle. Giacobbo profitierte von seiner TV-Popularität, alle wollten mit dabei sein. Der Herdentrieb erfasste nicht nur die Künstler: Wirtschaftsleute wie Peter Spuhler (Stadler Rail), Fred Kindle (Ex-ABB) oder der Bankier Thomas Matter unterstützten das Projekt, Politiker zeigten sich begeistert, die Bevölkerung riss sich um Eintrittskarten. Sämtliche Vorstellungen der ersten Eigenproduktion, «Die Eröffnung», waren schon vor der ersten Probe ausverkauft. «Die Künstler waren von einer Euphorie getrieben, man glaubte, nichts falsch machen zu können», erinnert sich der damalige künstlerische Leiter Andrej Togni. «Die ­Eröffnung» wurde zu einem seltsamen bunten Abend, ein Jekami der bekanntesten Schweizer Künstler, die alle ihren kurzen ­Auftritt hatten: von Beni Thurnheer bis zum Chaostheater Oropax, von Joachim Rittmeyer bis zu den Acapickels, moderiert wurde das Ganze von Giacobbo und Frey. Kaum jemand wagte, diese von Kompromiss und Konsens ­geprägte Produktion zu kritisieren. Dabei war sie der eindrückliche Beweis dafür, dass viele grosse Namen kein Garant für eine gute ­Vorstellung sind.

Trotzdem wurden noch mehrere solcher All-Star-Produktionen auf die Bühne gebracht, auf die auch Viktor Giacobbo skeptisch zurückblickt: «Das waren zum Teil Klamaukvorstellungen, die mal mehr, mal weniger gelungen waren.» Zwar kamen die Zuschauer noch immer in Scharen, doch das vorauseilende Wohlwollen nahm ab. «Die beteiligten Künstler wollten auf der Bühne in erster Linie ihre eigene Haut retten», erzählt ein dem Casino­theater nahestehender Komiker. Wenn schon die Produktion nicht überzeugte, waren die Darsteller umso mehr bemüht, wenigstens selbst so gut wie möglich dazustehen – was der Situation nicht zuträglich war.

«Es war der Anfangsirrtum, dass einige Künstler meinten, eine Aktie sei ein Garantieschein, um auf der Bühne präsent zu sein», sagt Viktor Giacobbo. In einem Haus, in dem so viele Leute Ansprüche anmelden, sind harte Entscheidungen unerlässlich. Doch wer hat im Casinotheater tatsächlich das Sagen? Für den Spielplan und die Gastspiele ist der künstlerische Leiter zuständig, über die zwei jährlichen Eigenproduktionen bestimmt eine Stückauswahlgruppe, bestehend aus der Kerngruppe der Künstler. Dazu gibt es noch einen künstlerischen Beirat, dem sämtliche Künstlerak­tionäre angehören, ein «Operettengremium», wie Giacobbo sagt. Und für den Geschäfts­betrieb insgesamt ist der CEO verantwortlich.

Der Handlungsspielraum des künstlerischen Leiters ist in einem solchen Konstrukt beschränkt. Das musste auch Andrej Togni erfahren, der als Erster diese Position besetzte: «In diesem undurchsichtigen Spiel der ­Mächte war es nicht leicht, meine Rolle zu finden, ich fühlte mich manchmal richtig verheizt.» ­Togni, ein erfahrener Theatermann, beging ­einen kolossalen Fehler: Er versuchte gegen die Kerngruppe um Giacobbo, Frey und Mike Müller Widerstand zu leisten. Der Streit ­eskalierte, als Togni die Aufführung von Freys Kinderstück «Wyss wie Schnee» ablehnte. ­Giacobbo sprach ein Machtwort, das Stück kam auf den Spielplan, Togni verliess das Casino­theater. «Wenn die Mehrheit der Künstler­aktionäre anderer Meinung ist als der künst­lerische Leiter, so ergibt eine weitere ­Zusammenarbeit keinen Sinn», sagt Viktor Giacobbo.

Thiel in Champagnerlaune

Die Stückauswahlgruppe entscheidet demokratisch und weist manchmal auch Projekte renommierter Autoren zurück. Einmal lehnte sie ein Stück von Charles Lewinsky ab, der sich als Aktionär der ersten Stunde für das Theater engagiert hatte. «Das sind ganz normale Entscheidungen, wie sie in jedem Theater vorkommen», sagt Lewinsky. Obwohl er sich mittlerweile vom Casinotheater und der Komik entfernt hat, ist er des Lobes voll für das Haus: «Was Giacobbo mit dem Theater erreicht hat, ist noch höher einzuschätzen als seine Leistung im Fernsehen», sagt er. Würde es die Stückauswahlgruppe auch wagen, sich einem Vorschlag Giacobbos zu widersetzen? Er selbst glaubt schon. «Ein eigenes Stück von mir wurde zwar noch nie abgelehnt, aber ich habe schon oft Ideen vorgebracht, die die Mehrheit verworfen hat», sagt er.

Im Casinotheater galt von Anbeginn der Grundsatz: An erster Stelle stehen die auftretenden Künstler. Auch darum gehört das Theater im deutschsprachigen Raum zu den begehrtesten Auftrittsorten. Allerdings musste der Grosszügigkeit rasch Grenzen gesetzt werden. Nachdem der Satiriker Andreas Thiel und sein damaliger Bühnenpartner Wolfram Berger drei Tage lang von der freien Konsumation im Restaurant ausgiebig Gebrauch gemacht und reihenweise Champagnerflaschen geleert hatten, wurde eine Limite eingeführt.

Einschneidender war der inhaltliche Lernprozess. «Ursprünglich war geplant, das Casino­theater als Überraschungshaus zu positionieren», sagt der Kabarettist Joachim Rittmeyer. Dies erwies sich als Wunschvorstellung: Der ökonomische Druck lässt kaum Experimente zu. «Eine schlecht besuchte ­Eigenproduktion kann das Haus gleich in eine Schieflage bringen», sagt Giacobbo. «Die Preisverleihung», ein Stück von und mit ­Joachim Rittmeyer und Patrick Frey, zeigte 2009 knallhart die Grenzen des Projekts Casinotheater auf: Die beiden Komiker liessen im ersten Teil des Stückes nur die Hälfte des Publikums in den Theatersaal, die andere musste draussen warten und wurde mit einem Notprogramm verköstigt. Eine Provokation, die vom Publikum nicht goutiert wurde: Im Durchschnitt blieb über die Hälfte der Plätze leer, in der Kasse klaffte ein riesiges Loch. Diese Erfahrung erschütterte das Selbstverständnis der erfolgsverwöhnten Künstler. Es war ein klares Signal: Das Casinotheater ist kein Selbstläufer. Will man langfristig bestehen, muss man sich konsequent dem Publikumsgeschmack anpassen.

Gab Andrej Togni noch acht, nicht mit Komikern wie den Schmirinskis oder einem ­Peach Weber in Verbindung gebracht zu werden, so hat man heute keine Berührungs­ängste mehr. «Wir können es uns nicht leisten, ein zu enges Programm zu fahren und einige Stile auszugrenzen», sagt Patrick Frey. «Heute sind die Grenzen zwischen Comedy und Kabarett ohnehin nicht mehr so scharf wie noch vor zehn Jahren.»

Ganz subventionsfrei, wie Giacobbo betont, ist das Casinotheater allerdings nicht. So erhielt es zum Beispiel vom Zürcher Lotteriefonds eine Million Franken für den Umbau, nun ist wieder ein Gesuch hängig. Im Gespräch nimmt Giacobbo eine erstaunlich defensive Haltung ein. Wiederholt sieht er sich genötigt, Kritik zu widerlegen, die gar nicht geäussert wurde. Zum Beispiel, er sei ein Mafia­boss, der die gesamte Kabarettszene fest im Griff habe. «Wenn dem so wäre, wäre ich ein miserabler Mafioso; bisher habe ich nur Geld investiert und keines zurückbekommen.»

Dass Giacobbo die mächtigste Figur im Schweizer Humor ist, ist unbestritten. Er kann Künstler mit Einladungen in seine TV-Sendung «Giacobbo/Müller» bekanntmachen, und er kann ihnen eine Auftrittsmöglichkeit im Casinotheater vermitteln, der führenden Kabarettbühne der Schweiz. Von diesen Möglichkeiten macht er gerne Gebrauch. Alle paar Jahre wird ihm dies von einem Journalisten vorgeworfen. Was die Kritiker ausblenden: Macht ist erst dann ein Problem, wenn sie missbraucht wird. Giacobbo kann man einiges vorwerfen – Dünnhäutigkeit, eine gewisse Selbstgefälligkeit, manchmal mässig lustige TV-Sendungen –, aber sicher keinen Machtmissbrauch. Im Gegenteil: Niemand betreibt so viel Nachwuchsförderung wie er, niemand hat so viel für die Szene getan, niemand versteht es, so viele unterschiedliche Künstler und potenzielle Geldgeber zusammenzubringen.

Das Casinotheater Winterthur ist zum wahren Schweizer Volkstheater geworden, einem Ort, wo Oswald Grübel, Moritz Leuenberger und ganz normale Besucher Seite an Seite ungezwungen ein Glas Wein trinken können. Ein Kulturbetrieb mit einer grösseren Ausstrahlung als manch ein hochsubventioniertes Haus. Giacobbo ist sich bei aller Zurückhaltung bewusst, wessen Verdienst das ist. Trotzdem gibt es Dinge, die ihm in seinem Theater missfallen. Schuld daran ist auch sein anderer Arbeitgeber, das Schweizer Fernsehen: «Wenn ich bei einer unserer Kabarettpremieren aus der Vorstellung komme und mir dann jemand von ‹Glanz & Gloria› das Mikrofon vor den Mund hält und fragt: ‹Herr Giacobbo,   färben Sie die Eier selbst an Ostern?›, werde ich richtig zickig.»

Eine ernsthafte Angelegenheit

26. April 2012, Weltwoche, von Rico Bandle

Dank Viktor Giacobbo ist das Casinotheater Winterthur zum Epizentrum des Schweizer Humors   geworden. In dem Haus fühlt sich Oswald Grübel […]

2017