Viktor Giacobbo

, 5. Juni 2003, von Andreas Klaeui

Walter Tell, ein schillernder Schweizerknabe

Wenn das Fernsehen Theater spielt: Viktor Giacobbo untersucht im Casinotheater Winterthur die Psyche des ersten und einzig originalen Tellensohns – eine Dialektsatire mit viel Prominenz aus Funk und Fernsehen auf der Bühne wie im Premierenpublikum.Es gibt Fragen, auf die geben uns die Geschichtsbücher keine Antwort. Zum Beispiel was das überhaupt für eine Apfelsorte war auf Tell juniors Kopf, damals beim Apfelschuss. Ein Boskoop? Aber auch, was im kleinen Walterli wohl vorging, als sein Vater mit der Armbrust auf ihn zielte.

«Schau vorwärts, Walter, und nicht hinter dich» – das Lebensmotto hat uns Schiller mitgegeben, aber im Weitern hat er sich für den ersten und einzig originalen Tellensohn kaum interessiert. Wie hat Walterli den Tod des Übervaters (bei der Errettung jenes Mädchens im wilden Schächenbach) erlebt? Wie ist er mit dem schillernden Heldenvatervorbild zurechtgekommen?

Die längst fälligen Antworten auf diese und weitere drängende Fragen (ist Walter Tell wirklich in der Schlacht bei Morgarten von einem Habsburgerspeer durchbohrt gestorben? Sass er nicht damals der Mutter auf dem Schoss und ass Apfelmus?) gibt nun das Casinotheater Winterthur in seiner ersten grossen Hausinszenierung nach der «Eröffnungs»-Show vor gut einem Jahr (vgl. BaZ vom 3. Mai 2002).

Am Dienstag war Premiere, und alle sind dabei gewesen: der Schweizermacher und der Höhenfeurer, der Pingu-Altrocker und der Mann von der Tagesschau, der Mann von den Facts und der Exmann vom Privatfernsehen, der Fernsehkulturmann, der mal sehen wollte, wie eine erfolgreiche Show funktioniert, so gut wie der Ex-Mister-Expo, der endlich mal was über die Schweiz erfahren wollte. Und zahlreiche Blondinen. Und Franz Hohler, dem Sujet angemessen mit Sohn.

Mythen in Schräglage

Wie im Alpabzug wurden sie von urchigen Sennen in den Saal gedrängt (die «Acapickels», für einmal nicht als Dragqueens verkleidet) – Scheunen-Atmosphäre auf der Bühne: mit Heufäden an den Wänden und Stroh am Boden, Zuber, Traktorpneu und Armbrust-Schiessscheibe und einer gewaltigen Reihe von Schönheitsplaketten und Milchleistungsauszeichnungen. Alles echt urschweizerisch, da darf auch der Alpsegen nicht fehlen. Er kippt allerdings bald in Schräglage: «O lobet, zu loben! In Gottes Namen lobet gopfertorigopferteli jetz frohlocked äntli!» – wie die Tellensage insgesamt. Denn Walterli hat ein Apfelschusstrauma. Das äussert sich einerseits darin, dass er zwanghaft Apfelmus isst, und zwar nur ohne Hörnli, anderseits, dass sein Sinn nicht nach dem Weibe steht und auch nicht nach dem Manne (wie Grossvater Walter Fürst schon vermutet).

Viktor Giacobbo spielt Walter Tell mit Hamlet-Attitüde («Ob’s edler im Gemüt, die Pfeil und Armbrust eines wütenden Geschicks ertragen / oder sich wappnend gegen einen Vierwaldstättersee der Plagen…») und der Psyche von Woody Allen und räumt auch gleich mit der Legende auf, er habe vor dem Apfelschuss gerufen: «Schiess, Vater, schiess!». «Schiss hani Vatter, Schiss!» muss es heissen. Er ist wehleidig und grüblerisch, und erst als er seine Familienmythen touristisch auswerten kann, kommt er ein wenig in Fahrt. Aber er hat die Vergangenheit immer noch nicht wirklich bewältigt… Da kanns nun schön satirisch werden im Dialektstück von Hannes Glarner und Patrick Frey. Zum Beispiel stellt sich heraus, dass Gessler im Himmel Steuereintreiber geworden ist – Steuern im Himmel? Nur für die Schweizer; der Himmel ist EU. Held Tell (Mike Müller als Sportspruchhaufen) und Schürzenjäger Gessler (Patrick Frey mit Pferdenummer) gondeln dann gemeinsam vom Himmel herunter in eine Schokoladenbildli-Schweiz, um Walter auf die Sprünge zu helfen. Grossvater Fürst (Ueli Beck als patronaler Businessman: «Jeder Feind ist ein zukünftiger Konsument oder Tourist») sieht zu diesem Zweck ein leichtes Mädchen aus Göschenen vor, die Künstlerin Helvetia Christen, die Sandra Studer schön billig gibt.

«Kän rächte Schwiizerbueb»

Walterli hat allerdings Mühe, am ersten Todestag des Vaters mit dessen Exfreundin, die jetzt die Freundin des Grossvaters ist, den «Nidwaldner Muniflug» auszuprobieren. «Ich bi kän rächte Schwiizerbueb und wett au keine sii», singt er in seinem Couplet mit Fluch-Refrain. Generell fluchen sie gern und neigen zu rustikalen Spässen (Regie: Alexander Stoia), diese Urschweizer, wenn sie nicht gerade jassen oder schwören: Klaus Knuth als begriffsstutziger Stauffacher, Regula Esposito als axtschwingender Baumgarten, Fabienne Hadorn als feministisch angehauchte Schwester Walters und Tellen-Tochter, die somit endlich auch mal vorkommt. Beni Thurnheer moderiert sportiv, und Peter Fischli spielt einen Petrus im Jodelhimmel, dem alles ein wenig ausser Kontrolle gerät, hauptsächlich Walter Andreas Müller als seniler Attinghausen in Rollstuhl und Filzpantoffeln, der über die Bühne rollt und «Einig, einig, einig» ruft. Heiter, heiter, heiter!

2017