Viktor Giacobbo

, 7. Mai 2013, von Rolf App

Giacobbos Flucht ins Grosse

Die Filmsatire „Der grosse Kanton“ erkundet das Verhältnis der Schweiz zu den deutschen Nachbarn. Willig lassen sich Viktor Giacobbos Gesprächspartner aus Politik, Wirtschaft und Kultur auf ein Gedankenexperiment ein: Was wäre, wenn Deutschland sich der Schweiz als 27. Kanton anschlösse?

Nach der Anrufung der Ventilklausel und einer scharfen Reaktion der EU hat der Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung» in seinem Blatt einen Kommentar in Sachen Schweiz publiziert. «Europas Prügelknabe» ist er überschrieben, Koydl stellt eine Frage an den Beginn: Was würde geschehen, wenn jedes Jahr 800 000 Wirtschaftsflüchtlinge aus allen Teilen Europas in Deutschland Lohn und Brot suchten – zusätzlich zu den rund vier Millionen Polen? Wie gelassen würde die Politik reagieren? Wie würden die Schlagzeilen der «Bild»-Zeitung aussehen? 800 000 Einwanderer pro Jahr. «Das», so Koydl, «sind, hochgerechnet auf die Bundesrepublik, die Grössenverhältnisse, mit denen sich die Schweiz seit Jahren herumschlagen muss. Welche Folgen das auf Wohnungsmarkt, Schulen und Infrastruktur hat, kann man sich leicht ausmalen.»

Ein Deutscher verteidigt die Schweiz. Kritisiert, dass sich die Europäer in letzter Zeit immer wieder «die mutmasslich ebenso dickköpfigen wie verschlagenen Eidgenossen» vorknöpfen. Denn die Ursachen «für die kleinen und grossen Fluchten in die Schweiz, sei es von unversteuertem Geld oder von unbeschäftigten Arbeitnehmern», lägen ja nicht in der Eidgenossenschaft, sondern im europäischen Umland. Trotzdem stellt auch Koydl fest: Irgendwie sind die Beziehungen vergiftet. Was also tun? Wie miteinander ins Gespräch kommen?

Viktor Giacobbo greift auf seine Spezialität zurück – die Satire. «Der grosse Kanton» heisst jene Erkundung des deutsch-schweizerischen Verhältnisses, die am 16. Mai in die Kinos kommt. Bei Walter Vintage Möbel & Accessoires an der Geroldstrasse in Zürich steht – oder vielmehr: sitzt – er für Interviews bereit. Während also um uns herum Stühle verkauft und Teppiche gemustert werden, reden wir über Deutschland und über das Verhältnis des Grossen zum Kleinen.

Wie ist der Film entstanden? «Zuerst hatte ich eine formale Idee – ich wollte einen satirischen Dokumentarfilm drehen», sagt Giacobbo. «Dann suchte ich ein Thema – und bin rasch auf das Verhältnis der Schweiz zu Deutschland gestossen. Das hat mit Aktualität zu tun, mit Emotion, mit jedem von uns.» Als Einstieg wählte Viktor Giacobbo dann eine absurde These: Was wäre, wenn Deutschland als 27. Kanton der Schweiz beitreten würde?

Präsentiert wird diese absurde Idee Vertretern von Politik, Wirtschaft und Kultur beider Seiten. Erstaunlich viele der Angefragten lassen sich darauf ein, die Palette reicht von Bundesrätin Doris Leuthard über die Medienunternehmer Roger Schawinski und Roger de Weck bis zum deutschen SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und dem Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir. «Natürlich hätte ich gern mit Angela Merkel gesprochen», sagt Giacobbo. «Da habe ich aber nicht einmal Antwort bekommen.» Auch der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer liess nichts von sich hören. «Für ihn habe ich besseren Ersatz gefunden: den Kabarettisten Gerhard Polt.»

In der Tat. Polt stakst durch eine Unterführung und erklärt, hier habe «im Jahr dreizehnhundertundetwas Kaiser Ludwig der Bayer den Gedanken gefasst, denen in Waldstätten endlich die Reichsfreiheit zu gewähren.» Das hat ihn dann so durstig gemacht, dass er wahrscheinlich das Hofbräuhaus aufgesucht hat, um sich mit einer Mass Bier zu stärken.

Mit seinen Gesprächspartnern ist Viktor Giacobbo «mehr als zufrieden» und mag deshalb auch kein Rating veranstalten. Immerhin: Sehr gefreut hat ihn der Nachtwächter von Rottweil, das hundert Jahre lang zur Eidgenossenschaft gehört hat. «Wir haben ihn bei einer Strassenumfrage zufällig getroffen, und er hat dann die ganze Filmcrew zu einem Schnaps nach Hause eingeladen.»

Wenn schon die Rottweiler so freundlich reagieren – warum sind die Beziehungen dennoch so angespannt? «Es gibt da ein paar Konflikte, die mit Landesgrenzen nichts zu tun haben», sagt Giacobbo. «Der Fluglärmstreit ist ein typischer Nutzungskonflikt. Zudem sind wir jahrelang die Hehler der Steuerhinterzieher gewesen.» Schliesslich, kommt er aufs Grundsätzlich-Menschliche zu sprechen: «Wir sind einander unglaublich nahe.»

Da kann durchaus etwas dran sein. Auch wenn die Literaturkritikerin Elke Heidenreich meint, die Schweizer seien «ein putziges kleines Bergvolk, das ich nicht immer richtig verstehe». Sie meint es aber eher sprachlich. Früher habe sie nämlich geglaubt, Lausanne sei der französische, Lugano der italienische Name für Luzern. «Dieser Unsinn muss aufhören, die Schweiz muss einsprachig werden.» Wobei sie die Rechnung ohne den um die Westschweiz besorgten SP-Präsidenten Christian Levrat und ohne Ständeratspräsident Filippo Lombardi gemacht hat – der schon, augenzwinkernd, von der Eroberung der Lombardei träumt.

Auch wenn die Gespräche immer einen satirischen Touch behalten, ist Viktor Giacobbos «Der grosse Kanton» doch auch ein lehrreicher Film geworden. Dazu trägt der Germanist Peter von Matt bei, vor allem aber zwei deutsche und ein EU-Politiker mit Affinität zur Schweiz: Gregor Gysi, Fraktionschef der Linken im Bundestag, dessen Vorfahren aus der Schweiz stammen, der ehemalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer und Michael Reiterer, ehemaliger EU-Botschafter in der Schweiz. Reiterer glaubt, dass man vor einer derartigen Ausweitung der Schweiz «noch ziemlich an der Schweizer Psyche arbeiten müsste». Was Roger de Weck nur bestätigen kann: «Die Deutschschweizer sind gerne eine Mehrheit in der Schweiz, aber sie hassen es, eine Minderheit im deutschsprachigen Raum zu sein.»

Trotzdem: Die Qualitäten der Schweiz sind erkannt. «Sie hat seit Jahrhunderten keinen Krieg mehr geführt, das wäre zweifellos ein Segen für Deutschland», sagt Gregor Gysi. «Auf der andern Seite hat die Schweiz ein Verhältnis zum Geld, das den Deutschen gar nicht gut bekäme.» Recht hat er wohl: Ex-UBS-Chef Oswald Grübel träumt schon von der Vereinigung mit Deutschland: «Dann würde alles unter das Schweizer Bankgeheimnis fallen, und es gäbe keine deutschen Steuersünder mehr.»

Joschka Fischer schliesslich, ein profunder Kenner der Schweizer Geschichte, kann nicht verstehen, weshalb man sich in der Schweiz derart aufgeregt hat über Peer Steinbrücks Drohung mit der Kavallerie. «Mit Kavallerie haben die Schweizer Bauern noch nie Probleme gehabt. Immerhin ist die burgundische Kavallerie von ihnen vernichtet worden.»

2017