Viktor Giacobbo

, 5. Juni 2003, von Madeleine Corbat

Apfelmus und Heimatliebe

Bald nach dem Apfelschuss ist Wilhelm Tell gestorben. Sein Sohn Walter aber hadert weiter mit dem Schicksal – und ist der Held in der Satire «Walter Tell» im Casinotheater Winterthur.«Si hei der Wilhälm Täll ufgfüert im Löie z’Nottiswil», sang einst der Berner Troubadour Mani Matter. Viele Jahre später, da schafft es Tell gar bis ins ferne Winterthur. Allerdings wurde er in der Zwischenzeit von seinem Sohn quasi entmachtet: «Walter Tell» heisst die Aufführung nämlich, inszeniert hat sie Alexander Stoia. Das ursprüngliche Drama haben Patrick Frey und Hannes Glarner in eine «Dialektsatire» in fünf Akten verwandelt.

Benis Taktgefühl

Gesungen wird in der neusten Tell-Version auch: Mit «O lobet» eröffnen die Zürcher Kabarettistinnen Acapickels den Premierenabend am Dienstag – zuvor haben sie bereits als Sennen das prominente Publikum in den Saal getreiben. Dem Loblied auf den Tellensohn folgt eine Art Flamenco-Ballett des ebenfalls mit viel Prominenz ausgestatteten Ensembles. DRS-Sportmoderator Beni Thurnheer etwa beweist bereits in diesen ersten Minuten sein Taktgefühl. Nach dem Tänzchen gibt Thurnheer historische Hintergrundinformationen zur «Schweizer Nationalwaffe», der Armbrust. Und zum Sinn und Zweck des Abends: «Es isch ösi gmeinsami Vergangeheitsbewältigung.»

Und die geht so: Wilhelm Tell, gemäss offiziellen Geschichtsbüchern und Friedrich Schiller der wahre Hero, ist tot. Nach dem Apfelschuss und einer un-zimperlichen Begegnung mit Gessler ist der revolutionäre Nationalheld ertrunken, als er einem Mädchen das Leben retten wollte. Deshalb hat er wenig später auch den für uns alle prägenden Rütlischwur verpasst.

In Winterthur hat nun einer ein massives Vergangenheitsproblem: Tells Sohn Walter. Vom Apfelschuss traumatisiert, ist er ein neurotisches Weichei mit Apfelmus-Sucht und massivem Vaterkomplex. Da bringt auch die schöne Liebesdienerin Helvetia nichts, die er heiraten soll. Einzig der tote Vater müsste nochmals erscheinen, damit das Trauma ad personam verarbeitet werden könnte. Und weil es die Satire manchmal auch gut meint mit den Menschen, setzt sich Papa Tell im Himmel in den Sessellift und schwebt auf die Erde herab.

Patrick Frey und Hannes Glarner haben mit ihrer Satire eine wilde Version der Tell-Geschichte geschaffen. Das Ensemble mit unter anderen dem herzerwärmenden Viktor Giacobbo als Walter Tell, Mike Müller in der herausragenden Rolle des Nationalhelden, Sandra Studer als Helvetia sowie Autor Patrick Frey in der Rolle des Bösewichts Gessler hat offensichtlich Spass an der neuen alten Heldengeschichte.

Shakespeare und SVP

Und während die ersten beiden Akte etwas langatmig sind, ist die zweite Hälfte ein amüsantes Spektakel, bei dem sowohl Shakespeare zitiert wird als auch teils witzige, teils zotige Bezüge zu aktuellen helvetischen Themen wie der Pro Helvetia, den Überflugsrechten und der SVP eingeflochten werden.

Das erstaunlichste an der Tell-Satire ist aber, dass sie entgegen den Erwartungen eigentlich die Liebe zur Heimat feiert. Wenn die Acapickels eines ihrer Loblieder mit afrikanischen Rhythmen mischen oder Wilhelm Tell zum leidenschaftlichen Ausbruch zur Verteidigung seiner selbst und des Landes anhebt, wird man das Gefühl nicht los, dass die Helvetia auch Jahrhunderte nach Apfelschuss und Rütlischwur so fantasielos und trist nicht ist. Das ist wirkungsvolle Vergangenheitsbewältigung.

Weitere Vorstellungen: bis 28. Juni. Wegen grosser Nachfrage gibts Zusatzvorstellungen. Vorverkauf und Infos: www.casinotheater.ch / 052 260 58 58.

2017