Viktor Giacobbo

Uraufführung der «Nepotistan-Affäre» im Casinotheater Winterthur: Ein Unheilbarer findet zur Realität zurück und treibt ein Irrenhaus zum Wahnsinn. In Annäherung an ein Stück jüngere Schweizer Geschichte ist dem Casino mit der «Nepotistan- Affäre» ein politischer Schwank mit Witz und Tempo gelungen.Die Vorgeschichte ist bekannt, die Details sind fiktiv. Im Alleingang und erfolglos hatte Bundespräsident Paul Jenni (Hanspeter Müller-Drossaart) versucht, zwei Schweizer Ornithologen aus der Geiselhaft in «Nepotistan» zu befreien. Der Bundesrats-Jet flog heim mit zwei leeren Vogelkäfigen. Jenni wurde abgewählt, als Einziger hat er es nicht realisiert. Also residiert er in einer Anstalt am Zürichberg und treibt gemeinsam mit seinen Mitbewohnern Jesus und Henri Guisan die Chefärztin (hinreissend gespielt von Esther Gemsch) beharrlich an den Rand des Wahnsinns. Regie führt Stefan Huber.
Gefangener Befreier

Es beginnt harmlos. Mit landesväterlicher Attitüde residiert der Abgewählte in der noblen Klinik, mit den Gedanken stets «in Bern oben». Er erteilt Weisungen zur Geiselaffäre und merkt nicht, dass er selbst zum Gefangenen einer ehrgeizigen Anstaltsleitung geworden ist. Im Gefühl der Überlegenheit versucht er auch, «Jesus» (László I. Kish) von seiner Wahnvorstellung zu befreien. Doch die Heilung durch Gegenüberstellung mit einem zweiten Sohn Gottes (Daniel Ludwig) scheitert, die beiden verbrüdern sich in penetranter Sanftmut und können alles erklären. Selbst die mitunter derbe Ausdrucksweise der Heiligen sei nicht neu; schliesslich hätten nicht all ihre Worte Eingang gefunden in die Bibel.

Zwischendurch überwacht Guisan (Rolf Sommer) mit dem Feldstecher den Zürichsee und entdeckt immer wieder Verdächtiges. Bald hält er die Fähre Meilen–Horgen für einen getarnten Flugzeugträger, bald wittert er am Ufer süddeutsche Taliban. Der stramme General in kurzen Hosen will alles sofort dem Bundesrat weitermelden, am liebsten direkt an Pilet-Golaz.

Im richtigen Bundeshaus werden derweil Pläne geschmiedet. Die Vorsteherin des EDA – auch im Stück trägt sie einen welschen Doppelnamen – entsendet einen Unterhändler (David Bröckelmann) in die Klinik am Zürichberg, um Jenni Erkenntnisse aus seiner gescheiterten Mission beim Geiselnehmer zu entlocken. Doch dieser gibt nichts preis, und weil in der Not selbst ernste Menschen erfinderisch werden, arrangiert der Unterhändler kurzentschlossen am Zürichberg ein Geheimtreffen mit dem unberechenbaren Diktator aus Nepotistan.

Dem Alt-Bundespräsidenten wird aufgetischt, seine Abwahl sei ein Täuschungsmanöver gewesen und der Aufenthalt in der Anstalt diene dem persönlichen Schutz. Er lässt sich überzeugen und spielt mit, aber die Tarnung der Klinik als Nobelresidenz hat ihre Tücken. Wertvolle Gemälde sollen ein staatstragendes Ambiente schaffen. Die Direktorin weiss, dass ein ebenfalls Abgewählter dem Haus nach seinem Aufenthalt Anker-Bilder vermacht hatte, aber die seien ein für alle Mal «politisch besetzt». Die Wegweiser zur Klinik werden verhüllt, doch ein findiger Journalist wird aufmerksam. Man erfindet ein Kunstprojekt von Christo und legt den Neugierigen mit kiloweise Fachliteratur und Erklärungen lahm.
Störfall Realitätssinn

Eine dramatische Wendung nimmt das Stück, als Jenni spontan seinen Realitätssinn wieder findet. Der geniale Plan des Abgesandten aus dem EDA droht zu platzen, der psychische Stress übermannt jetzt die Gesunden. Doch als bekennender Alt-Bundesrat und jetzt freier Bürger beschliesst Jenni im Interesse des Landes, die List nicht zu torpedieren. Er mimt den noch Amtierenden und bringt es schliesslich fertig, den wirren Auftritt des Diktators (Daniel Ludwig) für einen Verhandlungserfolg zu nutzen. Der Durchbruch hat aber seinen Preis, dem Diktator muss erlaubt werden, auf dem Rütli zu zelten.

Die Kombination aus Anstalt und Politik ist in der Satire bewährt und könnte zu Plattitüden verleiten. Die Autoren (Domenico Blass und Viktor Giacobbo) haben der Versuchung widerstanden und lassen es nicht auf Teufel komm raus krachen. Mit dosierten Respektlosigkeiten lassen sie auch Raum für feine Töne, nicht alles muss mit Hintersinn erschlagen werden. Gewitzte Unterhaltung, gespickt mit putzmunteren Anspielungen auf Prominenz aus Politik und Gesellschaft.

Nach zwei kurzen Stunden das Schlussbild: Blick aus dem Zelt des Diktators, auf dem Rütli tauchen Jesus und Guisan auf. Respektlos, frech und auch heimelig.

Casinotheater Winterthur, 1. September. Weitere Aufführungen: jeweils Dienstag bis Samstag, 20 Uhr. Bis 1. Oktober.

Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG

Staatskrise in der Anstalt

3. September 2011, Neue Zürcher Zeitung, von Florian Sorg

Uraufführung der «Nepotistan-Affäre» im Casinotheater Winterthur: Ein Unheilbarer findet zur Realität zurück und treibt ein Irrenhaus zum Wahnsinn. In Annäherung […]

«Ein Teil der Gans» – Premiere und Schweizer Erstaufführung im Casinotheater Winterthur

Mit der Schweizer Erstaufführung von Martin Heckmanns «Ein Teil der Gans» hat das Casinotheater Winterthur am Donnerstag die Herbstsaison eröffnet. Das Stück vermochte nicht durchwegs zu überzeugen, im Gegensatz zur Inszenierung.Es beginnt harmlos. Zwar herrscht häuslicher Ausnahmezustand, aber das Unheil kündigt sich nicht an. Ein rechtschaffenes Paar pendelt zwischen sterilem Esszimmer und dampfender Küche, es erwartet Gäste. Die zwei treten sich dezent auf die Zehen, die Nervosität wird von Bettina (Sabina Schneebeli) gelebt und von Pascal (Viktor Giacobbo) überspielt. Die Eingeladenen, Bettinas möglicher neuer Arbeitgeber und dessen Gattin, werfen ihre Schatten voraus.

Das Mahl wird zum Gericht

Martin Heckmanns «Ein Teil der Gans» wurde von Viktor Giacobbo für die Schweizer Erstaufführung in Dialekt übertragen und mit weiteren Eigenheiten des helvetischen Alltags ergänzt.

Die Vorbereitung auf Gäste hat im Theater ihre Tücken auch für Paare, die sich sonst einem unaufgeregten Leben verschrieben haben. Sie kocht, und er vergisst Wein heimzubringen; er macht hilflose Spässchen, und sie kriegt alles in den falschen Hals. Zunächst noch eine gute Handbreit von Gemeinheiten entfernt, entwickelt der Dialog bald kleine Giftpfeile, die sitzen. Eigentlich wären jetzt Gäste durchaus willkommen. Angenehme, weil sie ablenken, und unangenehme, weil ihre Anwesenheit die Marotten des eigenen Partners wieder in einem milderen Lichte erscheinen lassen. Aber es kommt anders.

Ein suspekter Überraschungsgast (Laszlo I. Kish) kommt den Eingeladenen zuvor. So eskaliert die Lage bereits, bevor die erwarteten Hoffnungsträger (Mike Müller und Norina Nobashari) endlich an der Tür klingeln. Der Fremde sucht nach einer angeblichen Autopanne in dieser gewittrigen Nacht Schutz und Telefon. Er wird wechselweise vor die Tür gestellt und dann wieder eingeladen.

Ist dann die ganze Gesellschaft einmal beisammen, geht das gnadenlose Spiel erst richtig los. Mit überheblichen Bemerkungen und falscher Freundlichkeit entfachen die Gäste eine giftige Mischung, deren Opfer sich jede kleine Panne als Verschulden ankreiden lassen. Keine Rettung bringt das Essen: Das Soufflé bleibt flach, und die Gans ist verbraten. Die Küche bietet Angriffsflächen, und diese werden leidlich ausgenutzt, hart, aber unfair. Das Mahl wird zum Gericht über die Gastgeberin und deren Partner, der seinen Seelenfrieden allein schon durch Vorspeisen mit französischen Namen bedroht sieht.

Das Tischgespräch wird in gnädigeren Momenten deftig und in ungnädigeren heuchlerisch. Hier beginnt Heckmanns trockene Komödie aus Lügen und Intrigen ein erstes Mal zu schwächeln, doch die Darsteller zeigen sich den Tücken des Stücks unter der Regie von Katja Früh vollauf gewachsen. So meistern sie auch ohne störende Längen für die Zuschauer den nicht gerade brillanten Einfall des Autors, die gelangweilte Atmosphäre der Tischgesellschaft durch lustlose Gesprächsansätze wieder und wieder zu verdeutlichen.

Stilsichere Gratwanderungen

Viktor Giacobbo verleiht seiner Rolle als Pantoffelheld durch gekonnt unpassend placierte Bemerkungen ihren Glanz. Er widersteht dabei der Versuchung zu übertreiben und schafft es so, die Grenzen zum billigen Humor stilsicher zu meiden. Auf dünnem Eis muss sich an seiner Seite Gastgeberin Sabine Schneebeli bewegen. Als liebende Partnerin eines liebenswerten Versagers pariert sie persönliche Angriffe und Nadelstiche mit glaubhafter Verletztheit, ohne ihre Würde hysterischer Überspanntheit zu opfern.

Heisse Gans und kalte Fische

Mike Müller gaukelt als jovialer Kleinformat-Patron mit halbseidener Schlagseite eine geschliffene Sensibilität vor, die Gastgeber auf der Bühne und Publikum in gleichem Masse immer wieder über die harten Seite seiner Rolle hinwegtäuscht. Und wo es härter zugeht, überzeugt er ebenfalls – mit derselben Stimme und derselben Mimik.

Seine konsequent humorlose Gattin mit einer Vorliebe für harte Drinks – die Gastgeber bevorzugen zur gebratenen Gans Elmer Citro – wird von Norina Nobashari gut getroffen. Mit lasziver Haltung und spitzen Bemerkungen stolziert sie durch den Abend, als ob Sinnlichkeit nur Mittel zum Zweck sei. Ihre Arroganz teilt sie mit dem unheimlichen Eindringling, zwei kalte Fische im Kampf um Herrschaft und Gänsebraten. Laszlo I. Kish gelingt die Balance zwischen impertinenter Besserwisserei und stilisierter Opferrolle.

Ratloser Schluss

Das Ende kommt unvermittelt. Heucheleien brechen auf, die Gäste geisseln die Wohlstands-genährte Gleichgültigkeit ihrer Gastgeber und reissen nach ihrer Moralpredigt an sich, was im Haus nicht niet- und nagelfest ist. Mahner, dreiste Diebe oder einfach nur Schmarotzer? Denkbar sind Anlehnungen an Friedrich Dürrenmatt und John Boynton Priestley. «Die Panne» mit einem Rollentausch für die Harmlosen und die Unheimlichen? Oder eine Prise Moral aus «An Inspector calls»? Wir wissen es nicht. In diesem Schluss liegt die wirkliche Schwäche des Stückes. Wenn die Zuschauer schon allein weiterdenken sollen, dann brauchen sie dazu gewiss keine Anleitung im Stil von «alles ist möglich».

Und dennoch: Die Premiere bot trotz Mängeln des Stückes einen guten Abend. Dazu beigetragen haben nebst den schauspielerischen Leistungen und der feinsinnigen Regie (Katja Früh) das schlichte Bühnenbild, ein Glücksfall für das Theater. Es widerspiegelt den unpersönlichen Charme des Möbelkatalogs, aus dem es stammen könnte. Mit seiner gepflegten Eleganz ab Stange trifft der Raum punktgenau den Nerv seiner Bewohner, die verkrampft nach Anerkennung suchen und dabei keine Fallgrube auslassen.

«Ein Teil der Gans» im Casinotheater Winterthur. Premiere (Schweizer Erstaufführung): 26. 8.

Weitere Aufführungen vom 28. August bis 30. September, jeweils Dienstag bis Samstag (ausser 8. und 10. September), Beginn um 20 Uhr.

Gänsefleisch und Giftpfeile

28. August 2010, Neue Zürcher Zeitung, von Florian Sorg

«Ein Teil der Gans» – Premiere und Schweizer Erstaufführung im Casinotheater Winterthur Mit der Schweizer Erstaufführung von Martin Heckmanns «Ein […]

2017