Viktor Giacobbo

, 3. September 2011, von Florian Sorg

Staatskrise in der Anstalt

Uraufführung der «Nepotistan-Affäre» im Casinotheater Winterthur: Ein Unheilbarer findet zur Realität zurück und treibt ein Irrenhaus zum Wahnsinn. In Annäherung an ein Stück jüngere Schweizer Geschichte ist dem Casino mit der «Nepotistan- Affäre» ein politischer Schwank mit Witz und Tempo gelungen.Die Vorgeschichte ist bekannt, die Details sind fiktiv. Im Alleingang und erfolglos hatte Bundespräsident Paul Jenni (Hanspeter Müller-Drossaart) versucht, zwei Schweizer Ornithologen aus der Geiselhaft in «Nepotistan» zu befreien. Der Bundesrats-Jet flog heim mit zwei leeren Vogelkäfigen. Jenni wurde abgewählt, als Einziger hat er es nicht realisiert. Also residiert er in einer Anstalt am Zürichberg und treibt gemeinsam mit seinen Mitbewohnern Jesus und Henri Guisan die Chefärztin (hinreissend gespielt von Esther Gemsch) beharrlich an den Rand des Wahnsinns. Regie führt Stefan Huber.
Gefangener Befreier

Es beginnt harmlos. Mit landesväterlicher Attitüde residiert der Abgewählte in der noblen Klinik, mit den Gedanken stets «in Bern oben». Er erteilt Weisungen zur Geiselaffäre und merkt nicht, dass er selbst zum Gefangenen einer ehrgeizigen Anstaltsleitung geworden ist. Im Gefühl der Überlegenheit versucht er auch, «Jesus» (László I. Kish) von seiner Wahnvorstellung zu befreien. Doch die Heilung durch Gegenüberstellung mit einem zweiten Sohn Gottes (Daniel Ludwig) scheitert, die beiden verbrüdern sich in penetranter Sanftmut und können alles erklären. Selbst die mitunter derbe Ausdrucksweise der Heiligen sei nicht neu; schliesslich hätten nicht all ihre Worte Eingang gefunden in die Bibel.

Zwischendurch überwacht Guisan (Rolf Sommer) mit dem Feldstecher den Zürichsee und entdeckt immer wieder Verdächtiges. Bald hält er die Fähre Meilen–Horgen für einen getarnten Flugzeugträger, bald wittert er am Ufer süddeutsche Taliban. Der stramme General in kurzen Hosen will alles sofort dem Bundesrat weitermelden, am liebsten direkt an Pilet-Golaz.

Im richtigen Bundeshaus werden derweil Pläne geschmiedet. Die Vorsteherin des EDA – auch im Stück trägt sie einen welschen Doppelnamen – entsendet einen Unterhändler (David Bröckelmann) in die Klinik am Zürichberg, um Jenni Erkenntnisse aus seiner gescheiterten Mission beim Geiselnehmer zu entlocken. Doch dieser gibt nichts preis, und weil in der Not selbst ernste Menschen erfinderisch werden, arrangiert der Unterhändler kurzentschlossen am Zürichberg ein Geheimtreffen mit dem unberechenbaren Diktator aus Nepotistan.

Dem Alt-Bundespräsidenten wird aufgetischt, seine Abwahl sei ein Täuschungsmanöver gewesen und der Aufenthalt in der Anstalt diene dem persönlichen Schutz. Er lässt sich überzeugen und spielt mit, aber die Tarnung der Klinik als Nobelresidenz hat ihre Tücken. Wertvolle Gemälde sollen ein staatstragendes Ambiente schaffen. Die Direktorin weiss, dass ein ebenfalls Abgewählter dem Haus nach seinem Aufenthalt Anker-Bilder vermacht hatte, aber die seien ein für alle Mal «politisch besetzt». Die Wegweiser zur Klinik werden verhüllt, doch ein findiger Journalist wird aufmerksam. Man erfindet ein Kunstprojekt von Christo und legt den Neugierigen mit kiloweise Fachliteratur und Erklärungen lahm.
Störfall Realitätssinn

Eine dramatische Wendung nimmt das Stück, als Jenni spontan seinen Realitätssinn wieder findet. Der geniale Plan des Abgesandten aus dem EDA droht zu platzen, der psychische Stress übermannt jetzt die Gesunden. Doch als bekennender Alt-Bundesrat und jetzt freier Bürger beschliesst Jenni im Interesse des Landes, die List nicht zu torpedieren. Er mimt den noch Amtierenden und bringt es schliesslich fertig, den wirren Auftritt des Diktators (Daniel Ludwig) für einen Verhandlungserfolg zu nutzen. Der Durchbruch hat aber seinen Preis, dem Diktator muss erlaubt werden, auf dem Rütli zu zelten.

Die Kombination aus Anstalt und Politik ist in der Satire bewährt und könnte zu Plattitüden verleiten. Die Autoren (Domenico Blass und Viktor Giacobbo) haben der Versuchung widerstanden und lassen es nicht auf Teufel komm raus krachen. Mit dosierten Respektlosigkeiten lassen sie auch Raum für feine Töne, nicht alles muss mit Hintersinn erschlagen werden. Gewitzte Unterhaltung, gespickt mit putzmunteren Anspielungen auf Prominenz aus Politik und Gesellschaft.

Nach zwei kurzen Stunden das Schlussbild: Blick aus dem Zelt des Diktators, auf dem Rütli tauchen Jesus und Guisan auf. Respektlos, frech und auch heimelig.

Casinotheater Winterthur, 1. September. Weitere Aufführungen: jeweils Dienstag bis Samstag, 20 Uhr. Bis 1. Oktober.

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