Viktor Giacobbo

Wer sich in der Unterhaltungsbranche für einen besonders erfahrenen Profi hält, wiederholt gerne die Phrase, dass das Arbeiten mit Tieren und Kindern zu den sehr schwer kalkulierbaren Wagnissen gehöre. Es ist klar warum: wegen deren Regie-Resistenz bzw. Unberechenbarkeit. Ich frage mich, ob schon jemand auf die Idee gekommen ist, Fredy Knie zu diesem Thema zu befragen – ihn, der selber als Kind zusammen mit Tieren in der Zirkusmanege aufgetreten ist, in einer Showkategorie, deren rustikaler Livecharakter mancher Theaterbühne und bestimmt jedem Filmset überlegen ist. Er, der als Artist, Direktor und vor allem Pferdedresseur in über 60 Zirkussaisons mindestens einmal täglich vor Tausenden von Zuschauern einen Showact geboten und dabei seine Tochter, den Enkel und viele andere Schüler ins Zirkusleben begleitet hat. So einer ist eben nicht „nur“ Pferdeflüsterer, sondern auch Kinderflüsterer. Und nicht „nur“ Tierfreund, sondern Menschenfreund.
Fredy Knie ist daher in seinem einzigartigen, mobilen, unsubventionierten Familien-Unterhaltungsunternehmen der Garant dafür, dass die unterschiedlichsten Lebewesen, die Artisten, die Requisiteure, die Techniker, die Familienmitglieder und die Tiere das beste Lebens- und Arbeitsumfeld vorfinden.
Im Grunde genommen führt Fredy Knie sein Unternehmen auf dieselbe verblüffend einfache Weise, wie er seine Pferde lenkt: verbal. Ausserhalb der Manege beschränkt sich sein digitales Equipment auf ein einfaches Handy, in das er nicht tippt, mit dem er nicht surft, das er ausschliesslich für Gespräche benutzt, erreichbar für alle zu fast jeder Tageszeit – ein Schreckensszenario für jeden Manager. Eine Agenda? Braucht er nicht, er hat alle Termine im Kopf. Während der Zirkusshow kommuniziert er ebenso direkt mit ruhiger Stimme, der seine bis zu 24 vollblütigen Hengste ohne jeglichen Zwang voll vertrauen und so die Pferdedressurnummern performen, für die Knie weltberühmt ist.
Täglich Verantwortung übernehmen für hunderte von Menschen und Tieren, regelmässig ein geschätzter 16-Stunden-Tag, Ferien ein unbekannter Begriff – das wäre für jeden andern Firmenchef ein klassisches Burnout-Szenario. Doch davon ist Fredy Knie weit entfernt. Wer einmal mit dem Circus Knie eine Saison lang auf Tournee gewesen ist, lernt einerseits Fredys Humor kennen und anderseits wie man auch einen anforderungsreichen Job mit Gelassenheit und Optimismus angehen kann.
Weil er Backstage ein unkomplizierter Kumpel ist und Minuten später der souveräne Direktor im Zirkusrund, ist es schwierig, den Privatmann Fredy Knie vom Berufsmann zu unterscheiden, denn privat ist er irgendwie immer. Da der Zirkus und die Pferde sein Leben sind, kann man keine Grenzen ziehen zwischen seiner privaten Leidenschaft und seinem Beruf, zwischen dem Chef und dem Freund, dem eleganten Dompteur im Frack und dem liebenswerten Patron einer der bekanntesten Familien der Schweiz.
Diese einmalige, reiche Erfahrung von mehr als sechs Jahrzehnten Zirkus und Pferdedressur ist nun in Wort und Bild in diesem Buch von Fredy Knie vereinigt: „Mein Leben, meine Pferde“. Ein Buch, das ebenso treffend den Titel tragen könnte: „Meine Pferde, mein Leben“.

„Mein Leben, meine Pferde“ von Fredy Knie jun.

14. September 2015, Vorwort

Wer sich in der Unterhaltungsbranche für einen besonders erfahrenen Profi hält, wiederholt gerne die Phrase, dass das Arbeiten mit Tieren […]

Deutsche Kabarettisten, die regelmässig in der Schweiz performen, wissen genau, dass das Schweizer Kleinkunstpublikum in der Regel bestens über die politischen Verhältnisse und die aktuellen News aus Deutschland informiert ist. Deshalb können jene politischen Komiker, die nicht nur mit irgendwelchem Daily-Funny-Life-Material ihre Programme auffüllen (wie die „Comedians“), die Texte getrost in der „Deutschland-Version“ belassen.
Doch einigen scheint das nicht zu genügen – sie erkennen das Gefälle zwischen dem informierten Publikum und ihrer eigenen etwas dürftigen Kenntnis der politischen Schweiz. Wer ist Präsident? Gibt es eine Linke? Wie heisst hier der Bundestag? Ich habe mich schon mehrmals amüsiert über deutsche Satiriker, die dann etwa „Seehofer“ mit „Blocher“ ersetzen und sich wundern, wenn die Pointe nicht funktioniert. Ein lieber deutscher Kollege hat mal unsern Buhmann vom Dienst, Christoph Mörgeli, eine Amöbe genannt – durchaus ein lustiger Vergleich, aber leider auf alle Buhmänner der Welt anwendbar.
Und so weiss das Schweizer Publikum, dass es den verehrten deutschen Kabarettisten einiges verzeihen muss, wenn diese sich in ihren Programmen mal kurz in die Schweizer Politik verirren und dort mit dem Blindenstock herumschlagen. Meistens. Allerdings gibt es da ein paar wenige Ausnahmen und zu denen gehören natürlich die Biermösl. Hier sitzt man als Schweizer Kollege im Publikum, hört hingerissen den gereimten und musikalisch perfekt gerahmten Pointen zu und denkt sich: Verdammt, warum ist das keinem von uns Einheimischen eingefallen!
Wer mit den Biermösl befreundet ist, weiss dass man von ihnen vor einem Gastspiel in der Schweiz gnadenlos zum Dienst verpflichtet wird. Peinlich genau wird man von ihnen zu aktuellen politischen Auseinandersetzungen, anstehenden Volksabstimmungen und lokalen Eigenheiten abgefragt. Die Ergebnisse dieses freundschaftlichen Verhörs verwursten sie dann am selben Abend frisch gereimt in ihren wunderbaren Liedern. Es ist eine Frage der Zeit, bis sie wieder im Casinotheater Winterthur gastieren werden. Darauf bereite ich mich heute schon vor, denn beim letzten Mal wollten sie von mir den Namen des amtierenden Gemeinderatspräsidenten wissen – und ich einheimischer Ignorant kannte den nicht.

Von den Biermösl verhört

22. Februar 2015, Vorwort

Deutsche Kabarettisten, die regelmässig in der Schweiz performen, wissen genau, dass das Schweizer Kleinkunstpublikum in der Regel bestens über die […]

Lieber Markus, du bist jetzt also 70, aber ich verzeihe dir. Auch wenn es mir schwer fällt. Denn – hast du mir etwa zu meinem 70. gratuliert? Nein. Und jetzt bitte keine Ausflüchte. Meine Situation hier ist unangenehm: Ich schreibe. Anstatt du. Dabei bist du doch der Schriftsteller und ich bloss der Leser. Allerdings ein hartnäckiger. Ich weiss, dein Pech ist, dass ich als Leser mit dir befreundet bin und dieses Privileg auch immer auszunützen versuche. Denn ich habe kreative Vorschläge, die du leider seit Jahren ignorierst. Wie oft habe ich mich bemüht, dich zu überzeugen, mit meiner Lieblingsfigur aus „Zündels Abgang“ ein Sequel zu verfassen. Du weisst, welche ich meine: Die Frau jenes Deutschlehrers, der seinem Kollegen erzählt, er habe sich „in den Ferien wieder einmal intensiv mit Goethes Sesenheimer Lyrik befasst. (…) Auch meine Frau konnte Zugang dazu finden.“ Diese Zugangsfrau, der du nicht einmal einen Namen gegeben hast, wird dann vom lautstark ausrastenden Zündel nochmals thematisiert, indem er ihren Mann anranzt: „Hoffentlich ist der wichtigste Zugang zu deiner Frau jetzt nicht mit Lyrik verstopft.“ Und genau hier wäre der Ausgangspunkt für ein Spin-off ideal gewesen. Natürlich hast du danach sechs weitere Romane geschrieben – und jeder davon erst noch ein Meisterwerk! Aber mit meiner Sequel-Idee wärst du zum Pionier der Relativpronomenromantitel geworden, die heute offenbar so verkaufsfördernd wirken: „Die Frau, die den lyrischen Zugang fand und verstopfte“. Dieses Buch hätte nebenbei noch die Anzahl deiner Titelwörter erhöht, die bei 7 Romanen insgesamt bei bescheidenen 13 Wörtern liegt, was einem durchschnittlichen Rating von nur 1,86 Titelwörtern pro Buch entspricht. Ein Umstand, der übrigens von der Literaturwissenschaft völlig vernachlässigt worden ist. Du wolltest nicht auf mich hören – und deshalb verzeihe ich dir jetzt doch nicht, dass du schon 70 bist. Aber ich gratuliere dir von Herzen und wünsche dir (und somit uns) nur das Beste, mein Lieber!

Markus Werner wird 70

14. Dezember 2014, Schaffhauser Nachrichten

Lieber Markus, du bist jetzt also 70, aber ich verzeihe dir. Auch wenn es mir schwer fällt. Denn – hast […]

In erster Linie ist Roger Schawinski™ ein Brand, eine Marke wie Larry King, Alice Schwarzer oder Batman. Die Wiedererkennung funktioniert selbst akustisch, in seinem Wiediker Züritüütsch: Roschschwnski! Bei keiner anderen parodierten Person kann ich als Imitator einfach deren Namen aussprechen und die Nummer hebt ab.
Seit er die erste Talkshow der Woche moderiert, bieten gesellschaftliche Anlässe perfekte Bedingungen für eine Schawinski-Feldstudie. Zwischen den Gästen ist er unablässig in Bewegung, permanent in der Vorbesprechung, ständig auf Aquisition. Zuverlässig ist mit Roger das Prominenz-Epizentrum des Events auszumachen, denn er steht nie im lockeren Smalltalk mit No-Names – er unterhält sich auf Anhieb mit dem Platzhirsch der anwesenden Cracks. Wenn er diesen dann mit seinem kämpferischen Charme für die Sendung anfragt, wird er aufmerksamer der Antwort zuhören als je danach in der Sendung.
Das ist er: Brillante Number One auf allen Ebenen, aber beim Zuhören höchstens auf Platz vierezwänzg.

Roschschwnski

4. Januar 2013, Beitrag zu "Wer bin ich" von Roger Schawinski

In erster Linie ist Roger Schawinski™ ein Brand, eine Marke wie Larry King, Alice Schwarzer oder Batman. Die Wiedererkennung funktioniert […]

„Katzenmusik und Katerstimmung“ (Herausgeberin: Elke Heidenreich, C. Bertelsmann)

Meine zwei Katzen sind nicht unmusikalisch. Die beiden Geschwister sind einfach in erster Linie hundslausige Schauspieler. Ich weiss, im Musiktheater scheint das nicht unbedingt ein Karrierehindernis zu sein, wie schwergewichtige und nicht mehr ganz junge Opernstars (Karnivoren!) zeigen, wenn sie gemäss Libretto verliebte Teenager auf die Bühne chargieren müssen. Mein Kater versucht seit Jahren – meist pantomimisch, selten auch lautmalerisch – mit szenischen Darbietungen zum Thema „extreme Hungersnot“ Fressbares zu erschleichen. Der Publikumserfolg ist häufig enorm, aber das Spiel bringt ihm in der Regel keine Naturalgage ein, weil niemand von der vulgarisierten Stanislawski-Inszenierung auf eine tatsächliche existenzielle Not schliesst. Als leicht übergewichtiger Haustiger ist er in dieser Rolle natürlich auch nicht optimal besetzt. Aber als vierbeiniger Standup ist er top – mit komischem Overacting kann er praktisch immer punkten.

Seine Schwester hat da etwas mehr Stil. Ich vermute, auch als Katze kennt sie gegenüber ihrem Bruder das bei Menschen offenbar zur Zeit viel gefühlte Fremdschämen. Wenn’s nichts zu Fressen gibt, wird kein Theater gemacht. Sie kratzt wörtlich die Kurve, holt sich draussen selbstbewusst eine Lebendnahrung, zwängt diese mit einem verkniffenen Jodel (schwierig zu artikulieren mit einer fetten Schermaus im Raubtiergebiss) durch die Katzenklappe, klatscht die bereits angefressene Beute gegen die weissen Wohnzimmerwände, um mich mit kleinen Mäuseblutspritzern für den verweigerten Futterservice zu bestrafen. Ärgerlich, wenn auch souverän und darstellerisch makellos.

Das übliche Kreischen von balzenden Hauskatzen zur jeweiligen Brunstzeit habe ich von meinen beiden pelzigen Mitbewohnern selten oder nie gehört. Na ja, sie sind ja auch nicht mehr im Vollbesitz der zur Fortpflanzung notwendigen Organe. Singen eigentlich auch kätzische Kastraten um einige Oktaven höher? Egal. Wenn ich das Balzgeschrei höre, dann ordne ich es stets fremden ordinären Katzen zu. Meine beiden sehe ich zwar in dunkler, erotikgeschwängerter Nacht nicht wirklich, aber ich stelle sie mir einfach vor, wie sie das befremdliche Treiben der virilen Konkurrenten verwundert bis missbilligend verfolgen. Um sich dann entspannt in meinen Salbeipflanzen zu versäubern.
Während sie also im häuslichen Alltag zu den eher lautlosen Mimen gehören, wechseln sie unterwegs sofort das Genre und werden zu leidenschaftlichen Sängern – oder vielleicht besser Stimmkünstlern. Unterwegs heisst: im Auto zwecks jährlichem Veterinärservice, beide in separaten Boxen auf dem Rücksitz und beide natürlich im Zustand höchster Aufregung. Auch nach zehn Jahren Fahrdienst als domestizierter Katzenhalter über dieselbe Strecke und dieselbe zeitliche Dauer erlebe ich dieselbe Aufführung: Der protzige Kater wird von der imposanten Kampfmaschine erstaunlicherweise stimmlich zum verängstigt mauzenden Kätzchen und seine sonst so diskrete Schwester zur wütend plärrenden Furie, deren menschenähnliche Babylaute jeden Jugendschutzbeamten veranlassen könnten, mich auf der Stelle wegen Kindsmisshandlung zu verhaften.

Doch ich bin jeweils der einzige Zuhörer und es ist exakt diese wiederkehrende Szene, an die ich mich beim Begriff Katzenmusik mit Schaudern erinnere. Diese kühnen Tonsetzungen fügen meinem Gehör mehr Schmerzen zu als es die Katzenkrallen an meinen Unterarmen vermögen, wenn sich die Geschwister gegen den Verlad in die Transportboxen sperren. Übrigens auch bei dieser Aktion: der dicke Buffo deutlich weniger hysterisch als die sonst so coole Stylistin.
Weil ich – jeweils Stunden vor dem Tierarztbesuch – nicht weniger aufgeregt bin als die Tiere und schon beim Verschliessen der Katzenklappe, dem Tor zur Freiheit, zitternde Hände bekomme, habe ich eine Vermutung nie wirklich empirisch bestätigen können: Ich bin nämlich überzeugt, dass die Katzen während der gesamten Fahrt, zuerst um ein paar Haarnadelkurven in steilem Gelände, dann durch ein kleines Waldstück, welches an das Dorf angrenzt, in dem sich die Tierarztpraxis befindet, jedes Jahr exakt das gleiche Lied singen. Jeder Laut im felinen Koloratursopran des Weibchens und jede leise klagende Slam-Poetry-Strophe des Katers wird immer am selben Punkt der Strecke gegeben! Kein zufälliger Jam geht hier ab, sondern ein durchkomponiertes, sozusagen GPS-gebundenes Chorwerk!

Um dies schlüssig zu beweisen, werde ich vor dem nächsten Veterinärtermin ein Valium schlucken und mit wissenschaftlicher Gelassenheit Aufnahmegerät und Kamera im Auto installieren. So wird es mir gelingen, den stringenten Zusammenhang von Ort, Bewegung, Gelände und Katzengesang zu beweisen. Mit dieser einmaligen Aufzeichnung werden weitere Experimente möglich. Nach dem Vorbild der berühmten Aufnahmen von Walgesängen, die, mit mehrfacher Geschwindigkeit abgespielt, dem Gezwitscher von Singvögeln gleichen, werde ich meine Carnivocals zwar nicht schneller, dafür aber von hinten nach vorne abspielen. Dies weil ich überzeugt bin, dass meine Katzen ihre Gesänge Note um Note von hinten nach vorne dem Rückweg vom Viehdoktor nach Hause anpassen.

Ist die variantenreiche Lauterzeugung der reisenden (transportierten) Hauskatze möglicherweise ebenso komplex wie beispielsweise beim Rotkehlchen? Und verbessert sich die Stimmlage bei meinem Buffo, wenn er ein Rotkehlchen frisst? Sollte ich in diesem Fachbereich zu gültigen wissenschaftlichen Ergebnissen kommen, wird wohl der Begriff Katzenmusik endgültig mit meinem Namen verbunden sein. So wie die unglückliche Hündin Laika mit ihrem Nachfolger Juri Gagarin, der magische Tigerbiss mit Siegfried und Roy oder die mafiösen Katerpraktiken mit Elke Heidenreich.

Feliner Sopran

30. September 2012

„Katzenmusik und Katerstimmung“ (Herausgeberin: Elke Heidenreich, C. Bertelsmann) Meine zwei Katzen sind nicht unmusikalisch. Die beiden Geschwister sind einfach in […]

Von Ruth Waldburger gibt es noch weniger private Fotos als von Greta Garbo. Nicht weil Ruth eine zickige Diva wäre, sondern weil ihr Vater Fotograf war und sie als Kind sein Lieblingssujet. Jedenfalls lautet so ihre versöhnende Erklärung, nachdem sie mir wiederholt einen scharfen Verweis erteilt hat, nur weil ich es wagte, sie zu fotografieren.
Nein, eine Diva ist sie nicht, im Gegenteil: Sie ist ein inspirierender Kumpel, eine unkomplizierte Produzentin, die jede noch so kleine und unformulierte Idee von wem auch immer aufnimmt und den etablierten Kultregisseur gleich wie den Drehbuchanfänger ernst nimmt und ermutigt. Als ich sie beim Schreiben eines Filmkonzepts fragte, ob ein Dreh in der Mojave-Wüste überhaupt zu realisieren sei, sagte sie: Schreib einfach mal das Drehbuch – um die Produktion kümmere ich mich dann schon.
Um sein Fotogeschäft attraktiv zu halten, hielt ihr Vater als begeisterter Tierfotograf drei junge afrikanische Löwen im Haus, mit denen sich seine Kunden ablichten lassen konnten. Jeder in der Filmbranche dürfte mit mir einig sein, dass praktische Erfahrung als Dompteurin eine ideale Voraussetzung für den Beruf der Filmproduzentin ist. Man mag das für ein schiefes Bild halten, aber im brutalen Filmalltag kämpft Ruth Waldburger für ihre Projekte wie eine Löwin – ich könnte das mit einer einzigen Foto beweisen, wenn ich nicht ihre harsche Reaktion fürchten müsste.
In ihrer Karriere gibt es eine weitere wahre Geschichte, die sich wie eine Legende anhört. Für die Hauptrolle in „Johnny Suede“ castete sie in New York einige junge Männer und engagierte schliesslich den damals praktisch unbekannten Brad Pitt – weshalb sie heute als dessen Entdeckerin gilt. Sie hat mir diese Geschichte erzählt, als wir die ersten Gespräche über „Ernstfall in Havanna“ führten – und ich gebe zu, dass sie mich mit der Aussicht lockte, den Brad Pitt der Schweiz zu werden. Nun, mit dieser Karriereplanung ist zwar etwas leicht schief gelaufen, aber Ruth tröstet mich heute damit, dass ich zwar mit keiner Angelina Jolie verheiratet bin, aber somit auch keine 13 Adoptivkinder aus 9 Kontinenten aufziehen muss.
Das daily business einer Filmproduzentin, bei der täglich alle möglichen Probleme zusammenlaufen, besteht vor allem im Ärger-Management. Ein Film über diese Tätigkeit hiesse „The Shit hits the Fan“ oder vielleicht „Film Capitalisme“. Vor diesem Hintergrund zeigt sich die erstaunlichste Fähigkeit von Ruth: Ihre Firma könnte tagsüber kurz vor dem Bankrott stehen – als Gastgeberin würde sie abends wie immer entspannt ihre Gäste bekochen und sich als tolle Freundin nach deren Plänen erkundigen. Nur schon deswegen müsste man Ruth Waldburger erfinden, wenn es sie nicht gäbe.

Ruth Waldburger

20. Januar 2011, Katalog 46. Solothurner Filmtage

Von Ruth Waldburger gibt es noch weniger private Fotos als von Greta Garbo. Nicht weil Ruth eine zickige Diva wäre, […]

Originaltitel: Die Qualität der Qualitätsdebatte

Beim Thema „Qualität des Fernsehens“ erfasst mich für gewöhnlich eine plötzliche psychosomatische Müdigkeit. Denn es handelt sich hier zwar nicht gerade um ein sich selbst zerstörendes, aber bestimmt um ein sich selbst beantwortendes Thema. Schliesslich wird Fernsehen ja durchwegs mit schlechter und nicht mit guter Qualität konnotiert.

Was kürzlich an der Fernsehpreisverleihung in Deutschland ablief, war typisch für dieses ewige Gejammer: Ein bildungsbürgerlicher Fernsehverächter, in diesem Fall Marcel Reich-Ranicki, lässt sich über ein Medium aus, das ihm zutiefst fremd ist und das er deshalb auch nicht kennt. (Dass er sich für einen Fernsehpreis nominieren lässt und erst bei der Verleihung merkt, an welch schwachsinniger Veranstaltung er teilnimmt, bestätigt seine Unkenntnis.)

Natürlich heisst das nicht, dass er komplett unrecht hat. Natürlich ist Fernsehen (auch) ein ärgerliches Schrottmedium, zuweilen nicht nur eine Beleidigung für jeden von uns, die wir ja alle über einen inneren Reich-Ranicki verfügen, sondern für jene, die irgendwas mit den Begriffen Würde oder Stil anfangen können. Jedoch – ist diese Erkenntnis für irgend jemanden neu? Nee, weder für den fernsehsüchtigen Analphabeten noch für den Gross-Feuilletonisten. Für alle, vom White Trash über den bewusst massvollen Fernsehzuschauer und den verzweifelt nach einem Thema suchenden Kolumnisten bis zum elitären Kulturschaffenden, der bei jedem Vernissage-Smalltalk stolz anfügt: Ich habe gar keinen Fernseher – für alle diejenigen ist „das Fernsehen“ ein beliebt-bewährtes Schmähobjekt. In der Schweiz sagt man häufig anstelle von „das Fernsehen“ auch „Leutschenbach“, früher der Name eines unschuldigen Vorortbaches, heute eine abfällige Bezeichnung für biederes Staatsfernsehen.

Dabei wundere ich mich manchmal, mit welcher Elle gemessen wird, und vor allem, wer diese Elle anlegt. Häufig ist das die, sagen wir mal freundlich semi-professionelle Fernsehkritik in den Printmedien, meist verfasst von Leuten, deren Qualifikation für diese Tätigkeit darin besteht, dass sie einen Fernseher besitzen. Während für alle andern Sparten wie beispielsweise Oper, Wirtschaft oder Sport primäres Grundwissen verlangt, ja als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, ist die Fernsehkritik sowas von brutal radikaldemokratisch: jeder, der will, darf. Manchmal auch jeder, der woanders nicht mehr kann, darf hier noch lange, und zwar unbeleckt von Sachkenntnis. Und hier wäre mal eine Debatte über die Qualität der Qualitätsdebatte sehr interessant. Doch das ist erst mal eine Metaebene zuviel.

Fernsehen ist halt immer Boulevard, und zwar nicht nur bei Unterhaltungssendungen für die Masse. Der immanente Zwang zur Bebilderung wirkt in manchen Bereichen rührend hilflos oder unfreiwillig komisch. Etwa bei den unter dem Label Kultursendung laufenden Geschichtsmagazinen, wo drittklassige Darsteller römische Feldherren mimen. Schön grotesk auch Literaturdiskussionen, in denen Germanistik-Cracks alles dafür tun, um zu verschleiern, dass sie im Fernsehen sind. Trotzdem findet man in dieser riesigen bunten Kiste namens Fernsehen echte Trouvaillen – Dokumentarfilme, Magazine, Serien, Diskussionssendungen, die den Qualitätsvergleich mit den so seriösen Printmedien nicht zu scheuen brauchen. Schrott ist in jedem Medium zu haben, im Fernsehen ist er einfach besonders schön gelackt, deswegen aber nicht verwerflicher als die aufgegossenen Brangelina-Paris-Hilton-News, die der Tages-Anzeiger auf seiner Kehrseite mit dreitägiger Verspätung publiziert.

Weshalb nun eigentlich die permanente Aufregung übers Fernsehen? Wie kommt es, dass die „Arena“ seit Jahren als Brüllshow bezeichnet wird, obwohl ich dort wirklich selten jemanden habe brüllen hören? Neidisch, weil diese Art der politischen Auseinandersetzung halt eben nur im Medium Fernsehen möglich ist (unabhängig von vielen dürftigen Voten, die man ja nicht ernsthaft dem Überbringer anlasten kann)? Weshalb führen sonst ganz vernünftige Leute über Jahre hyperventillierend eine aufgeregte Debatte über die Qualität einer Wettersendung, nur weil diese auf einem Hausdach produziert wird? Weil kein anderes Medium dermassen ordinär in die Wohnung des Zuschauers platzt. Und seltsamerweise auch in die Wohnung jener, die zwar gar nie Fernseh gucken, aber trotzdem schon immer und auch in Zukunft öffentlich den Oechslegrad der Fernsehqualität bestimmen wollen.

(Dies ist die Originalversion des Artikels, bevor er von der TA-Redaktion konfektioniert worden ist… V.G.)

In der bunten Kiste finden sich Schrott und Perlen

29. Oktober 2008, Tages-Anzeiger

Originaltitel: Die Qualität der Qualitätsdebatte Beim Thema „Qualität des Fernsehens“ erfasst mich für gewöhnlich eine plötzliche psychosomatische Müdigkeit. Denn es […]

In zwei Tagen ist er endlich vorbei, der teuerste, schärfste, härteste, ja brutalste Wahlkampf aller Zeiten. Vor der internationalen Gemeinschaft präsentiert sich die Schweiz als ein zerrissenes Land, das am Rande des Nervenzusammenbruchs an der Urne entscheidet, ob die Nazis oder die Grünen die Macht in Bern übernehmen werden. Eine Karikatur, in der ein Schweizerkreuz zum Hakenkreuz wird, erscheint in der «New York Times», in einem Land also, wo man bisher meinte, bei uns heisse der König von Schweden Roger Federer. Jetzt kennen sie einen weiteren Schweizer, nämlich Christoph Blocher (an Christoph Meili erinnern sie sich nur noch schwach), verwechseln den Justizminister mit Ahmadinejad, wo er doch nichts anderes als eine helvetische Mutation von Dick Cheney ist.

Dummerweise realisiert das aufgeschreckte Ausland nicht, dass bei uns ein nationaler Wahlkampf so was wie eine gigantische Freilichtaufführung ist, deren ewig gleicher Ausgang alle Schweizer von vorneherein kennen. Denn, ehrlich, gibt es irgendeine wahlberechtigte Person, die nicht mit 98-prozentiger Sicherheit weiss, wie die Regierung, das heisst das zankende Miniparlament, das wir Bundesrat nennen, nach den Wahlen aussehen wird? Nämlich: fünf Bürgerliche und zwei Sozis. Wie die dann genau heissen – who cares?

Trotz gegenseitiger Ausschlussdrohungen von SP und SVP ist die Konkordanz längst chronisch geworden. Fünfzig Jahre Wahlen und gleich bleibende Regierungszusammensetzung – so was schafft ausser uns nur China. Übrigens: Zurzeit weilt eine Delegation der OSZE als Wahlbeobachter in der Schweiz. Sollten Sie einem Delegationsmitglied begegnen, sagen Sie ihm auf keinen Fall, dass Sie den Wahlausgang schon kennen. Sonst argwöhnt er, dass es in unserem politischen System nicht mit demokratischen Dingen zugeht.

Ausländische Medien beobachten unser Land zurzeit scharf. Doch leider entgehen ihnen dabei die echten Sorgen und Nöte der Bevölkerung. Deren drängendste Probleme brachte vor ein paar Tagen ein Artikel im «Tages-Anzeiger» (die Zeitung, in der auch diese Kolumne erscheint) auf den Punkt: Laut Bundesamt für Umwelt ist die mangelnde Ordnung im Wald, also herumliegende Bäume und Äste, die «mit Abstand am häufigsten geäusserte Kritik». Weder Klima noch Ausländer noch Flat Tax noch Minarette noch Komplotte, sondern der unordentliche Wald beschäftigt das Volk – ein Fact, den Claude Longchamp in seinen Prognosen fahrlässig ignoriert! Im erwähnten Artikel sagt ein Forstbeamter, «das Waldbild vieler Leute» sei «von den 60er-Jahren geprägt» und sie gingen «mit einem statischen Bild vor Augen durch den Wald».

Nun, sie gehen ja auch mit demselben statischen Bild durch die Wahlen, und zwar seit mindestens den 60er-Jahren. Zugegeben, ein Volk ist schwer zu regieren, dessen Waldbild sich nicht vom Weltbild unterscheidet. Stossend ist trotzdem, dass keine einzige Partei dieses Anliegen aufgegriffen hat und fordert, den Waldboden von unreinlichem Holz zu befreien und mit abwaschbaren Kacheln auszulegen. Doch wer will so was von denselben Parteien erwarten, die sich in den nächsten vier Jahren wieder streitend durch das Dickicht der Konkordanz kämpfen werden, statt endlich damit Kleinholz zu machen.

Die Wahl, die Welt und der Wald

19. Oktober 2007, Tages-Anzeiger

In zwei Tagen ist er endlich vorbei, der teuerste, schärfste, härteste, ja brutalste Wahlkampf aller Zeiten. Vor der internationalen Gemeinschaft […]

Nicht nur im Export von High-End-Luxusgütern und Spitzentechnologie, sondern auch im Bereich der hochentwickelten Xenophobie ist die Schweiz erfolgreich, denn die Schäfchengrafik der grössten Partei ist offenbar im Ausland gefragt: Die neofaschistische NPD in Hessen kopiert das SVP-Plakat praktisch eins zu eins. Die SVP erwägt, dagegen juristisch vorzugehen, und zwar gemäss Parteisekretär Gregor Rutz wegen – ja, was wohl? – „Missbrauchs“. Noch ist nicht geklärt, wer hier missbraucht wird. Falls es das Schaf ist, bekäme die eifersüchtige Kleinviehpartei ziemlichen Ärger, denn bereits deren frivoler Umgang mit (männlichen!) Ziegen dürfte bald eine populäre Initiative nach sich ziehen: für eine lebenslängliche Verwahrung von politischen Sodomie-Straftätern.

Auch wenn der Peinlichkeitsquotient in der aktuellen Innenpolitik recht hoch ist – langweilig ist es in der Schweizer Politik zur Zeit nicht. Leider lässt sich aber unser Volk nur schwer aus seiner Lethargie reissen. Man stelle sich vor: Seit dem 5. September (Blochers „dunkler Tag für die Eidgenossenschaft“) findet in unserem Land ein Putsch statt, und keiner geht hin! Wie erklären wir das wieder dem Ausland? Da fällt ein Bundesrat konspirierenden „Schlangen“ in einer „Schlangengrube“ zum Opfer, wie sich das SVP-Reptil Christoph Mörgeli treffend ausdrückte. Worauf der Berg von Subkommission eine Maus gebiert, die dann vor der Schlange wieder… aber lassen wir das. Wie erklären wir als Erfinder der Demokratie der Restwelt, dass bei uns Politiker vor, während und nach einer dringlichen Parlamentsdebatte pathetisch drohen, den politischen Gegner nicht mehr in die Regierung zu wählen? Mit dem Sonderfall Konkordanz-Putsch oder dem Zauberformel-Komplott?

In einer der spannendsten Debatten im Bundeshaus werfen sich die grossen Kollegialitätsparteien wenige Wochen vor den Wahlen gegenseitig vor, sowas gschämiges wie Wahlkampf zu betreiben. Parteienstreit in einem Schweizer Parlament, unerhört! Die Sachlichkeitsparlamentarier der CVP stellen kleine Partei-Monstranzen auf ihre Pulte, und der Präsident der Staatsgründerpartei FDP, Fulvio Pelli, distanziert sich in einer wahlkämpferischen Rede vom Wahlkampf und bleibt nur aus „Respekt vor den Institutionen“ im Haus, würde aber lieber in burmesischen Mönchsroben auf der Strasse demonstrieren. Vielleicht realisiert er nach den Wahlen schmerzlich, dass Abgeordnete nicht ins Bundeshaus gewählt werden, um dort bei heissen Debatten hinauszugehen. Die SP-Nationalräte, wohl quasi die „Attentäter des 5. September“, warnen vor der Gefährlichkeit ihres langjährigen Koalitionspartners SVP und vor allem deren geistigem und weltlichem Oberhaupt, während Subkommissarin Meier-Schatz sich als eidgenössische Sophie Scholl sieht.

Alles hoffnungsvolle Ansätze für eine spannende Innenpolitik und steigende Wahlbeteiligungen. Doch leider werden sich die Vertreter der Regierungsparteien, nachdem sie sich erneut demütig für den Wahlkampf geschämt haben, mit viel oppositioneller Rhetorik wieder gegenseitig in die Kollegialitäts-Junta hieven. Das Land wird bleiben, was es ist, eine Dignitas-Schweiz, die Touristen aus aller Welt zum Sterben langweilig finden.

Geheime Putsch-Demokratie

5. Oktober 2007, Tages-Anzeiger

Nicht nur im Export von High-End-Luxusgütern und Spitzentechnologie, sondern auch im Bereich der hochentwickelten Xenophobie ist die Schweiz erfolgreich, denn […]

Mit Freude und Stolz hat mich die Meldung erfüllt, dass der Schweizer Aussenhandel im vergangenen Jahr alle Rekorde gebrochen hat. Offenbar sind Produkte aus unserem Binnenland gefragt. Selbst bei den Importen zeichnete sich eine markante Erhöhung ab, und dies nicht nur wegen der Einfuhr von Schlager singenden Steuerflüchtlingen aus Frankreich.

Gerade als ich mich fragte, welche Produkte aus der Schweiz im Ausland wohl am begehrtesten sind, ist mir die Schlagzeile „Schweizer Schnee für Mauren“ ins Auge gesprungen. Unglaublich – das stolze nordafrikanische Berbervolk importiert Schweizer Schnee? Natürlich nicht, denn Mauren heisst eine nicht sehr stolze liechtensteinische Flachlandgemeinde, in der ein Langlaufrennen durchgeführt wird, obwohl der anhaltende Pistenbericht „Wiese grün“ lautet. Deshalb lassen die Organisatoren Schweizer Kunstschnee aus dem Städtchen Buchs SG, das sich auch Ökostrom City nennt, mit Lastwagen ins fürstliche Mauren karren.

Ignorieren wir die ökologischen Einwände und wenden uns den phantastischen Perspektiven zu, die sich unserem Land dadurch eröffnen. Nach Uhren, Schokolade und Federer dürfte Schnee zum Exportartikel der Zukunft werden. Durch die Klimaerwärmung wird die weisse Pracht zu einem knappen Gut und bald auf dem Weltmarkt wie Erdöl oder gar Kaviar gehandelt. Obwohl natürlich Kunstschnee überall auf der Welt als billige Massenware hergestellt werden kann (z.B. aus chinesischer Hors-Ciel-Produktion), hat die Schweiz gute Chancen, im zertifizierten Luxus-Naturschneesegment die Führung zu übernehmen. Selbst wenn die allgemeine Erwärmung fortschreitet, wird es an den höchsten Berggipfeln immer noch genügend weisses Gold geben, welches an schattigen Felswänden geschürft und zu hohen Preisen ins Ausland verkauft werden kann.

Neben dem Buchser Ökostrom-Kunstschnee wird Wildschnee aus den Hochalpen durch das Swiss-Miss-Holle-Label geschützt. Als Premium-Qualität wird er zur wirtschaftlichen Zukunftschance für die Berggebiete. Besondere Regionalmarken entstehen, etwa der Davoser halbhart, der wegen seiner griffigen Sämigkeit geschätzt wird. Auf den exklusivsten Parties der Welt, wird neben dem Kunstkaviar aus Turkmenistan ein Haufen Swiss Snow aufgeschüttet und für die Gäste eine mehrere Meter lange Piste präpariert. In den USA besonders gefragt ist die Zermatter Spätlese aus Bodenhaltung oder der etwas günstigere Lauberhorner moitié-moitié mit mindestens 50 Volumenprozent Kunstdünger. Für den fairen Handel bietet Max Havelaar handgepflückte Schneeflocken der Sorte Eiger-Mönch-Jungfrau extra vergine im wiederverschliessbaren Kühlbeutel an.

Natürlich wird die Konkurrenz diese Entwicklung nicht verpassen. Fälschungen aus Südostasien, wo Kinderhände die Eisfächer der Kühlschränke auskratzen müssen, werden den Markt überschwemmen, und Kolumbien wird nichts unversucht lassen, um Schneeexporteur Nummer eins zu bleiben. Das liechtensteinisch-schweizerische Rheintal bei Buchs und Mauren wird hingegen mit Sicherheit zur Wiege der schneeexportierenden Industrie, zum Snow Valley. Der liechtensteinische Fürst wird dann allerdings seine malariaverseuchte Trutzburg längst verlassen haben.

Swiss Premium Snow

2. Februar 2007, Tages-Anzeiger

Mit Freude und Stolz hat mich die Meldung erfüllt, dass der Schweizer Aussenhandel im vergangenen Jahr alle Rekorde gebrochen hat. […]

Gerade zur richtigen Zeit vermeldet eine Studie der Uni Zürich, dass die Jugendlichen besser sind als ihr Ruf. Nun, schwer ist das nicht gerade, denn der Ruf dieser Bevölkerungsgruppe ist mieser als seinerzeit derjenige der Sowjetrussen, Tamilen oder Kosovo-Albaner-Nein. Erstaunlicherweise bescheinigt die Untersuchung den Jugendlichen soziale Kompetenz. Sie seien „auch in der Pubertät bereit, sich anzustrengen“. Ein vorurteilsbeladener alter Schuft, wer nach diesem Zitat an Seebach denkt?

Ich glaube, dass viele Ressentiments gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe daher rühren, dass man hierzulande sehr wenig über sie weiss. Woher kommen die Jugendlichen? Weshalb leben sie bei uns? Um derartige Fragen zu beantworten, sollten wir uns diese fremden Wesen einmal genauer ansehen.

Viele normale Menschen wissen nicht einmal, wie so ein Jugendlicher aussieht, denn oft rast er in seinem fahrbaren Bassverstärker, fast unsichtbar hinter getönten Fensterscheiben und versteckt unter einer Baseballmütze, an uns vorbei. Zumeist ist er dann auf dem Weg zu einem Date, das er mit seinem Handy filmt, um es dann als Pornovideo ins Internet zu stellen.

Die erwachsene Gesellschaft betrachtet dieses Verhalten als unter der Gürtellinie, nicht wissend, dass die Gürtellinie der Jugendlichen mittlerweile auf der Höhe der Kniekehle liegt und somit alles Geschlechtliche über der Schamgrenze. Eine soziokulturelle Werteverschiebung! Die Weibchen tragen meistens ein Handy vor ihrem nackten Bauchnabel her, um per SMS herauszufinden, ob die Jungs im getunten Auto den Crash überlebt haben.

Sie sehen, wenn man die Sitten und Gebräuche dieses Menschenschlages besser kennt, kann man sich leicht von Vorurteilen befreien. Dazu ist aber unsere Gesellschaft nicht bereit und verfrachtet die Jugendlichen in kostspielige Internierungslager. In diesen sogenannten Primarschulen müssen sie dann zwei Fremdsprachen lernen, obwohl die meisten mit fünfzig krassen Wörtern auskommen, sie ins Handy tippen oder notfalls als Porno ins Internet stellen können.

Einer der wenigen Politiker, der dieses Problem in seiner ganzen Komplexität erkannt hat, ist der kantonalzürcherische SVP-Fraktionschef Alfred Heer, der im Gegensatz zu den verblödeten Jugendlichen jederzeit die Hauptstadt von Pisa nennen kann. Und er weiss: die Integration der Jugendlichen ist gescheitert und deren Anteil an der einheimischen Bevölkerung wächst bedrohlich. Deshalb soll die gesamte Jugend wieder ausgeschafft werden, und zwar dorthin, wo sie hergekommen ist, zu den Linken und Freisinnigen.

Selbstverständlich gibt es Beispiele für geglückte Integration. Menschen, die sich seit Jahrzehnten als assimilierte Vorzeigejugendliche in unserem Staat engagieren – aber wer will als Toni Brunner enden? Ich bekenne, auch ich war einmal Jugendlicher. Glücklicherweise habe ich mich aber rechtzeitig von der Jugend abgewandt, bin ausgetreten und heute voll normal. Nicht auszudenken, was aus mir geworden wäre ohne diese Integration. Wahrscheinlich würde ich, animiert durch gewaltverherrlichende Videospiele, in den Kantonsrat gehen, dort mit meinem Handy Alfred Heer beim Daherreden filmen und als Porno ins Internet stellen.

Integration, Jugend und Porno

24. November 2006, Tages-Anzeiger

Gerade zur richtigen Zeit vermeldet eine Studie der Uni Zürich, dass die Jugendlichen besser sind als ihr Ruf. Nun, schwer […]

Dass es Gottes Gerechtigkeit irgendwie nicht bis ins sudanesische Darfur, nach Bagdad oder an die asiatischen Tsunamiküsten geschafft hat, war bisher für viele Nicht- bis Leichtgläubige eine beunruhigende Panne. Doch dieser Mangel ist eine Lappalie gegen die Ungerechtigkeit, die bisher dem Buch der Bücher, der Bibel, anhaftete. Das kunterbunte Kompilat aus alten, vielfach übersetzen, redigierten und zensurierten Texten leidet an sprachlicher Ungerechtigkeit, ist durchsetzt mit frauenfeindlichen Begriffen. Erst jetzt, wo die von protestantischen Christinnen und Christen neuübersetzte „Bibel in gerechter Sprache“ auch bei uns vorgestellt wird, werden wir gewahr, dass es offenbar in alt- wie neutestamentlicher Zeit weder Mutterschaftsurlaub noch geschlechtergerechte Doppelnamen wie beispielsweise Frau Maria Muttergottes-Nazarettinger gab.

Dem und noch viel anderem soll nun abgeholfen werden. Der Mackerbegriff „Herr“ wird ersetzt durch „die Ewige“, „die Lebendige“, „die Eine/der Eine“ oder „Ich-bin-da“. Selbstverständlich geht es hier nicht etwa um eine Geschlechtsumwandlung des „Ich-bin-da“, sondern lediglich um eine geschlechtsneutrale Darstellung des „Sie-Er“, wie „die Lebendige“ auch genannt werden darf. Mit viel modernem Sprachgefühl haben die Übersetzer auf die etwas zweifelhaften Begriffe Herrin oder Domina verzichtet.

Trotzdem ist leider die Sprache eine äusserst komplexe und eben nicht ganz protestantisch-korrekte Einrichtung, weshalb ich herrgottnochmal bzw. ichbindanochmal wissen möchte, wie ich gendergerecht evangelisch zu fluchen habe: dielebendigefriedstutz statt gottfriedstutz? Was rufe ich aus, wenn mir die Teufelin begegnet? Mein Ich-bin-da, steh mir bei? Vielleicht weiss da der schusselige alte Herrgott gar nicht, dass er gemeint ist!

Die über 50 Theologinnen und Theologen, die die traditionellen Bibeln im Sinne von Tina Luther und Hulda Zwingli neu übersetzt haben, werden von Gruppierungen wie dem österreichischen Weltgebetstagskomitee, aber auch vom nordelbischen Männerforum sowie von der Oekumenischen Frauenbewegung Zürich unterstützt. Vermutlich wird die Übersetzung sowieso ökumenekompatibel sein, denn gerade die Katholiken sehen das Geschlechtliche gerne etwas neutral und somit unbefleckter.

Die ganze Umschreiberei soll übrigens 400’000 Euro gekostet haben. Ich weiss nicht, wie viele Mahlzeiten man damit nach Darfur hätte liefern können, aber ich bin voller Hoffnung, dass mit der neuen Bibel die Ärmsten der Armen endlich sprachlich korrekt gegen den Hunger anbeten können.

Manch einer wird vielleicht dem amerikanischen Biologen Richard Dawkins näher stehen als dem nordelbischen Männerforum. (Achtung, der folgende Satz ist für leicht betroffene Christen nicht geeignet!) Dawkins sagt, dass in der heutigen Welt die grossen Religionen mehr Unheil als Frieden anrichteten, und er glaube ebensowenig an Gott wie an Schneewittchen oder an das Flying Spaghetti Monster. Ich selber begrüsse, dass mit der Neuübersetzung die Komik in das Buch der Bücher Einzug hält (wenn auch unfreiwillig), und ausserdem ist mir persönlich das Spaghetti-Monster gar nicht so unsympathisch, denn es ist geschlechtsneutral und somit absolut gerecht.

Über Ich-bin-da und die Welt

3. November 2006, Tages-Anzeiger

Dass es Gottes Gerechtigkeit irgendwie nicht bis ins sudanesische Darfur, nach Bagdad oder an die asiatischen Tsunamiküsten geschafft hat, war […]

Neulich an einer Abdankungsfeier für einen verstorbenen Jugendfreund: Der Pfarrer begrüsst die Trauergemeinde in quälend langsamer Rede, erwähnt den Toten in administrativ-statistischen Werten: Name (nach hastigem Blick ins Manuskript), Geburts- und Todesdaten, die AHV-Nummer gibt er nicht bekannt. Danach wechselt er in einen leidenschaftlicheren Tonfall, berichtet erschüttert von Jesus von Nazareth, der zwar tragischerweise auch verstorben ist, aber dessen Angehörige nicht in der Kirche sitzen. Es folgt ein thematisch nicht unbedingt zwingendes Zitat aus dem Römerbrief über Gottes freie Gnadenwahl und anschliessend eine detaillierte Schilderung der Fischereiwirtschaft am nahöstlichen See Genezareth vor 2000 Jahren. Herrgottnochmal, denke ich, jetzt leben diese Christen seit über einem Jahrtausend bei uns und sind immer noch nicht integriert!

Ich war nicht der einzige, den diese Werbeveranstaltung nervte, um so mehr als der arme Verstorbene Fischgerichte nicht ausstehen konnte. Gleichsam als Strafe für meine Gedanken erschien mir ein Engel, der sich in irritierendem Aargauer Dialekt an mich wandte. Aha, dachte ich erst, die haben da oben dieselben Probleme wie die Zürcher Innenstadt am Samstagabend – doch der Engel entpuppte sich nur als Hologramm von Doris Leuthard, die also zu mir sprach: „Die Schweiz ist ein Land mit christlicher Kultur. Das muss jeder akzeptieren, der hier leben will.“ Da bereute ich und nickte, denn schliesslich möchte ich nicht wegen unakzeptierter christlicher Kultur ausgewiesen werden.

Eine geballte Ladung christlicher Kultur erlebt zur Zeit der türkische Kulturverein in Wangen bei Olten, der auf seinem Vereinslokal ein Minarett errichten will. Zwar nur ein kleines, symbolisches das jederzeit durch das Kampfgeläute der umliegenden christlichen Minarette vom Dach geblasen werden könnte. Trotzdem hat die Baukommission das Miniminarett nicht bewilligt, weil es als Sakralbau in der Gewerbezone zu stehen käme, und so blöderweise Heiliges mit Geschäftlichem vermengt wird, was nicht unserer christlichen Kultur entspricht. Ein weiteres Problem sei die Parkplatzzahl für 450 Gläubige, die nicht garantiert werden könne. Hier wartet man noch auf einen VCS-Grundsatzentscheid vom Stuhl (Gabi) Petri.

Ferner gibt es in Wangen auch diejenigen, die Angst haben, weil sich ihr Islam-Bild irgendwo aus Kara Ben Nemsi oder Aladins Wunderlampe herleitet. Ausserdem wehrt sich die lokale evangelische und katholische Konkurrenz gegen den ausländischen Religionsanbieter inmitten der gewerblichen Sakralzone. Natürlich würden sie niemals das gegnerische Gotteshaus abfackeln oder Todesprämien für Karikaturisten aussetzen, wie das von radikalen Imamen der islamischen Welt zur Zeit praktiziert wird. Doch betreffend Integration friedlicher Muslime in der Schweiz stellen die Wangener wie auch Frau Leuthard (das Imami der CVP) eine Christenkarikatur dar, und zwar eine selber gezeichnete.

Hoffentlich finden die Wangener noch eine Lösung. Vielleicht nicht gerade in der Gewerbezonenverordnung, dafür im Lukas-Evangelium: Wer dich auf das eine Wangen schlägt, dem biete auch das andere dar.

Integrierte Minarette

24. Februar 2006, Tages-Anzeiger

Neulich an einer Abdankungsfeier für einen verstorbenen Jugendfreund: Der Pfarrer begrüsst die Trauergemeinde in quälend langsamer Rede, erwähnt den Toten […]

Die Empfehlung des WoZ-Redaktors lautete: Dieser Beitrag soll durchaus die Linken provozieren. Blöd nur, dass mich der Auftrag zum Zeitpunkt der Hirschhorn-Affäre erreichte, die mal wieder klar machte, dass die Linken grundsätzlich nicht zu den Provozierten gehören, sondern ausschliesslich die Rechten. Das Kerngeschäft der Linken ist die Solidarität. Mit den Provozierenden. Nachdem die budgetierenden Spiesser im Ständerat der Pro Helvetia eine Million Sackgeld gestrichen hatten, wusste ich, es kann sich nur um Stunden handeln, bis der erste Solidaritätsaufruf in die Mailbox drängt. Und so kam es.

Auch ich kannte zwar den Namen Hirschhorn aus den Medien, hatte aber noch nie eine seiner berühmten Karton-Klebeband-Zitat-Orgien gesehen. Was ich allerdings stöhnend registrieren musste: Nach Schang Hutters „Shoa“-Würfel schon wieder ein bildender Links-Pathetiker! Und schon wieder grosse Kunst mit leider angeklebtem dürftigem Content. Oder besser: mit lauwarmer Pointe, die den Cabaret-Muff von tausend Jahren verströmt. Ich rede nicht von der theatermässigen Bepissung von Blocher oder der Abstimmungsurne als Kotzbeutel im Rahmen einer Kunstinstallation – darob mag sich seit Schlingensief kein Bildungstheatergänger mehr erschrecken. Aber mein Gott: Abu Ghraib und Innerschweizer Kantone und Wilhelm Tell, ächz! Dieser Link würde die Message-Polizei selbst bei einem Provinzkabarettisten strengstens ahnden. Und ich weiss, wovon ich rede, denn ich habe schon viele schlechte Pointen geliefert. Allerdings nicht im subventionierten Staats-Schaufenster wie dem Centre Culturel in Paris. Und es musste sich danach auch niemand mit mir solidarisieren.

Meine kunstliebenden Freunde überzeugten mich, dass das Werk Hirschhorns innerhalb der Kunst diskutiert werden soll. Einverstanden. Was aber, wenn ein gestandener Künstler wie Hirschhorn mit einer Art Satire-Makramé explizit politisch kommuniziert, dies aber mit den Mitteln eines debüttierenden Studentenkabaretts? Wenn er öffentlich bekannt gibt, er werde, solange Blocher Bundesrat sei, nicht mehr in der Schweiz ausstellen (als ginge es um die burmesische Militärjunta), dann schwappt er doch elend über den künstlerischen Rand, um knietief im linken Politkitsch zu versinken. Was sollen die geplagten, zur Solidarität genötigten linken Kulturschaffenden nun tun? Auch ins Ausland emigrieren, um in den chicsten Gallerien zwischen Paris und Miami eine Venceremos-Diaspora gegen Blocher aufbauen? Ins Albisgüetli pinkeln und die Urnen gestrichen voll schlüeren?

Lustig an der ganzen Affäre ist dasselbe hochgekochte schiefe Pathos auf beiden Seiten. Hirschhorn: „In Abu Ghraib hat es zu wenig Demokratie, in der Schweiz zu viel.“ Ständerat Fritz Schiesser: „Das Urinieren auf eine Person (…) hat mich schockiert. Das sind Szenen, wie wir sie aus den Foltergefängnissen im Irak gesehen haben.“

Während die Kunstkenner im Ständerat kläffend „unsere ureigenen Wurzeln, unser historisches Selbstverständnis, unsere gesellschaftlichen Werte“ in Gefahr sahen und andere Hirschhorn als „Mahner wider die Gleichgültigkeit2 verklärten, sagte Blocher ziemlich trocken: „Es handelt sich offenbar um eine Provokation. Und das kann mich nicht treffen. Es hat jedermann das Recht, sein Werk als Kunstwerk zu bezeichnen. So gesehen, bin ich auch Künstler. Ich habe allerdings gehört, dieser Künstler habe gesagt, er werde nicht mehr in der Schweiz ausstellen, solange ich im Bundesrat sei. Das ist ein Grund, möglichst lange im Bundesrat zu bleiben.“

Als grundsätzlich williger Solidarisierer – denn ich habe ja dann das Protestinserat im Tagi auch unterschrieben, stöhn – wünsche ich mir solchen subversiven Witz gefälligst im eigenen Lager. Ist doch Scheisse bzw. Pisse, wenn nach einer derartig profanen Affäre ausgerechnet unser Lieblingsfeind am coolsten reagiert. Nicht wahr, lieber WoZ-Redaktor?

Solidarität – ächz!

23. Dezember 2004, Wochen-Zeitung

Die Empfehlung des WoZ-Redaktors lautete: Dieser Beitrag soll durchaus die Linken provozieren. Blöd nur, dass mich der Auftrag zum Zeitpunkt […]

Lorenz Keiser, Kabarettist und TA-Kolumnist, hat ein Kolumnenbuch geschrieben. Viktor Giacobbo hat sich mit ihm darüber unterhalten.

Viktor Giacobbo: Wir sind zwar per Du, aber die ethischen Richtlinien der Tamedia AG verlangen von mir, dass ich dich sieze.

Lorenz Keiser: Das erinnert mich daran, wie ich einmal am Dolder-Meeting George W. Bush traf und ihn freundlich mit den Worten begrüsste: Na, Schoscho, du taube Nuss! Er antwortete: Für Sie immer noch Mr. President.

Gut gegeben! Sie haben soeben ein Kolumnenbuch geschrieben. Ich habe auch eines, es ist extrem erfolgreich und heisst . . .

Das interessiert jetzt hier nicht.

. . . «Orangen der Vergebung». Oder so.

Jetzt aber zurück zum Thema.

Sehr richtig. Es ist sowieso vergriffen.

Was?

Mein Kolumnenbuch.

Sie haben ein Kolumnenbuch geschrieben?

Ja.

Ich auch!

Das freut mich aber.

Es trägt den Titel «Mindestens haltbar bis siehe Tubenfalz».

Ich finde, der Titel ist ziemlich schlecht lektoriert. Es heisst doch Taubenschwanz. Kann ich Ihnen jetzt endlich eine Frage stellen?

Wenn es sein muss . . .

Was darf Satire?

Die Satire ist wie ein guter Sandkuchen. Er darf alles, nur nicht im Halse stecken bleiben.

Und Schenkelklopfen?

Darf er auch nicht.

Woher nehmen Sie eigentlich immer Ihre Kolumnen?

Aus dem Buch, Sie Idiot!

Dieser Humor ist jetzt aber ganz schön britisch! (Nestelt in seinen Unterlagen.)

(Auftrumpfend.) Ich erkenne vierzig Pointen am Geschmack! Ich liege manchmal auf der Wiese und fresse sie. Das sind so geheime Rituale. Gottschalk hat sich bereits gemeldet.

(Hat seine Unterlagen gefunden.) Ich muss jetzt leider dringend einen Telefonanruf tätigen. Es geht um meinen neuen Roman, er heisst . . ., egal. Es gibt sicher etwas, was Sie den Lesern schon lange mal sagen wollten. (Verlässt den Raum.)

(Denkt lange nach.) Die Satire ist ja eigentlich ein Frischprodukt. Genau wie ein gutes Sushi muss die Satire stets, also jedenfalls die japanische Satire, irgendwie besser keine nach Fisch stinkenden Witze machen, sondern mehr so die Mächtigen in die Knie zwingen und mit dem Sashimi-Messer vierteilen. (Geht zur Tür.) Herr Giacobbo! Ich bin fertig! (Wartet lange.)

(Gut gelaunt.) Da bin ich wieder! Stichwort Satire. Als hinter- gründiger Mahner mit dem fein-sinnigen Florett halten Sie der Gesellschaft mit spitzer Feder den Spiegel vor, der den Regierenden die Maske von der hässlichen Fratze reisst. C’est le ridicule qui tue?

Wer?

Le ridicule.

Justement.

(Stöbert erneut in seinen Unterlagen.) Tja, dann hätte ich eigentlich keine Fragen mehr. Wollen Sie mich etwa noch was fragen über meinen nächsten Film?

Eher nicht. Wer hat eigentlich diese Woche Kolumnendienst?

Ich sicher nicht!

Ich auch nicht. Dann ist es wohl an Patrick Frey.

Hat der auch ein Kolumnenbuch?

Keine Ahnung. Wenn Sie das wissen wollen, fragen Sie doch ihn!

Gute Idee. Hätten Sie mir grad seine Telefonnummer?

Ja bitte. Hier.

Sehr freundlich, danke. (Wählt.)

Bitte, gern geschehen.

Und danke für das Gespräch. (Verlässt den Raum.)

Scheiss-Interview! (Wartet ein Weilchen und verlässt dann ebenfalls den Raum.)

 


Lorenz Keiser, Mindestens haltbar bis siehe Tubenfalz. Verlag Kein & Aber, 29.80 Franken.

«Ich erkenne vierzig Pointen am Geschmack»

17. November 2004, Tages-Anzeiger

Lorenz Keiser, Kabarettist und TA-Kolumnist, hat ein Kolumnenbuch geschrieben. Viktor Giacobbo hat sich mit ihm darüber unterhalten. Viktor Giacobbo: Wir […]

Der Karikaturist Nico feiert sein 35-Jahr-Jubiläum beim «Tages-Anzeiger». Viktor Giacobbo befragte ihn aus diesem Anlass zu Motiven, Provokationen und Pannen.

Mit Nico sprach Viktor Giacobbo

Nico, du behauptest immer von dir, du würdest an der Côte d’Azur leben. Das macht aus dir einen Mann von Welt. Jetzt treffen wir uns hier in diesem trostlosen Mehrzweckbüro, das du beim «Tages-Anzeiger» bewohnst. Wie geht das zusammen?

Auch ein Kosmopolit muss hin und wieder in die Niederungen der Provinz hinuntersteigen. Nein, ernsthaft, es ist gar nicht mein Büro, sondern das von Tagi-Chefredaktor Peter Hartmeier.

Aha, das Chefbüro! Deswegen strahlt es so etwas Weltmännisches aus.

Das ist der Geist, der rüberspringt.

Du bist ja ursprünglich Deutscher . . .

Sag das nicht . . .

Die Wahrheit muss jetzt auf den Tisch. Du bist in Hannover aufgewachsen. Das ist ja nicht gerade ein wunderschöner Ort. War es danach immer dein Traum, einmal im Leben in Olten zu wohnen?

Beide Städte sind dermassen schön, man spürt den Übergang gar nicht.

Du hättest Montreux, Lugano oder Oberwinterthur wählen können und hast dich für Olten entschieden?

Ich bin erst nach Luzern gegangen und dann nach Zürich. Dass ich in Olten wohnte, kam erst viel später.

In Emmen wärst du mit dem Namen Cadsky nicht eingebürgert worden. Aber offenbar damals in Opfikon?

Ja, und zwar weil ich den Beamten mit meinen Jasskenntnissen überzeugen konnte. Ich betete ihm die Regeln aller in der Schweiz gängigen Jassarten herunter, sogar des ominösen Guggitalers, von dem der Beamte noch nie gehört hatte. Um sich das Ganze nicht noch einmal anhören zu müssen, hat er mich eingebürgert. Später wäre ich in Opfikon sogar fast noch Ehrenbürger geworden.

Dein gesamtes Leben hat sich also im Dreieck Opfikon, Olten, Hannover abgespielt?

(lacht)
Warum hast du dich als Schweizer Karikaturist an der Côte d’Azur niedergelassen?

Der Grund ist ein einfacher: Irgendwann bekam ich in den Händen Gicht und konnte nicht mehr ohne Schmerzen zeichnen.

Ein Super-GAU für einen Karikaturisten.

Ja, ich musste meine Lebensumstände verändern, bin in den Süden gezogen, habe meine Ernährung umgestellt und bin die Gicht so wieder losgeworden.

Du bist wahrscheinlich der bekannteste tagesaktuell politisch kommentierende Karikaturist der Schweiz. Da ich in einer verwandten Branche arbeite, überfällt mich immer wieder der Neid. Du zeichnest etwa 400 Karikaturen im Jahr. Findest du wirklich jeden Tag eine Idee?

Ich brauche die Ideen nicht zu finden, weil die Politiker und Wirtschaftskapitäne sie mir jeden Tag zuspielen. Das heisst, ich lese viele Zeitungen, höre Radio, schaue fern und versuche, am Ball zu bleiben.

In 35 Jahren beim Tagi hast du im Publikum ziemlich viel Widerspruch ausgelöst. Würde es wehtun, wenn die Beschimpfungen ausblieben?

Ja, Beschimpfungen braucht es. Sie schützen die Haut besser als Nivea-Crème.

Hast du eine Lieblingsbeschimpfung?

Ich bin nicht wählerisch. Die ernsthaftesten Beschimpfungen kommen natürlich aus der religiösen Ecke. Wenn eine Schwester aus Ingenbohl schreibt, sie reklamiere im Namen von 50 Millionen Christen, dann meint die das offensichtlich ernst. Ich habe der Schwester geantwortet, auf dem Brief würden noch ein paar Unterschriften fehlen.

Ist es nicht erstaunlich, dass Jahre nach den Filmen von Mel Brooks oder der Monty Pythons auch heute immer noch so viele Reaktionen von religiöser Seite kommen?

Die Reaktionen sind heute schon nicht mehr dieselben. Als ich 1968 beim Tagi anfing, gab es in Schweizer Tageszeitungen kaum politische Karikaturen. Für einen, der die Zeitung schon 50 Jahre abonniert hatte, war es ein gewaltiges Novum. Zu Beginn gab es enormen Protest, und es brauchte keine harten Zeichnungen, um die Leute auf die Barrikaden zu treiben. Heute ist dieser Gewöhnungsprozess abgeschlossen.

Bist du eigentlich kompletter Freidenker und Atheist?

Ja. Komplett frei. Sieh dich um: Es sind immer die monotheistischen Religionen, die Mord, Totschlag und Kriege auslösen.

Hattest du beim damals noch stärker links stehenden «Tages-Anzeiger» besonders gute Bedingungen, um zu provozieren?

Ich habe mir diese Frage manchmal gestellt, etwa wenn ich wieder einmal kündigte, weil ich mich über etwas aufgeregt hatte. Da stellte sich immer die Frage, wo ich jetzt hingehen könnte. Die Wahrheit ist – ich sage das nicht gern und streiche dem Verleger Hans Heinrich Coninx nicht gerne Honig um den Bart -, dass es in der Schweiz kein liberaleres Haus gibt als den «Tages-Anzeiger». Deswegen bin ich auch die ganze Zeit dageblieben. Der Tagi und Coninx haben von mir ja auch einiges an Kritik einstecken müssen, aber ich kann sagen, dass sie das gut weggesteckt haben.

Du hast ja einmal mit einer Karikatur Herrn Coninx sehr direkt angegriffen. Du liessest den Unternehmer Nicolas Hayek, der mit einer Studie über den «Tages-Anzeiger» beauftragt worden war, in einer Zeichnung zum Verleger sagen: «Wir können in diesem Haus niemanden entbehren – ausser Sie.» Wie hat er reagiert?

Er hat das sehr humorvoll aufgenommen, ja, er wünschte sich danach sogar das Original der Karikatur. Eine solche Haltung ist aber selten. Von all den Politikern und Bundesräten, die ich während der Jahre sehr häufig gezeichnet habe, hat eigentlich nur ein Einziger regelmässig mit Lob oder Kritik geantwortet: Willi Ritschard, der Bundesrat, von dem alle gesagt haben, der sei ja nur ein Spengler, wenn nicht gar ein Analphabet. Sonst kam nichts.

Auch nicht von Ogi oder von Blocher?

Blocher hat mir bei einer persönlichen Begegnung mal gesagt: «Aha, Sie sind der, der mich immer so zur Sau macht!» Das war seine Begrüssung.

Wenn man 35 Jahre lang zu allen wichtigen politischen Themen gezeichnet hat, kommt dann nicht der Punkt – etwa beim Thema Krankenkassenreform -, wo man merkt, dass man zu diesem Thema alle Jokes schon gemacht hat, die es gibt?

Mein Problem ist ein anderes: Wenn ich zu einem Thema zeichne, zum Beispiel zu Berlusconi, habe ich immer mehrere Zeichnungen fixfertig im Kopf, und im letzten Moment rufe ich diejenige ab, die mir die beste scheint. Die nicht gebrauchten Bilder bleiben aber im Kopf, und wenn ich später wieder zum Thema komme, weiss ich nicht mehr, ob ich diese Bilder schon gezeichnet habe oder nur gedacht.

Hast du schon einmal die gleiche Zeichnung erneut abgeliefert, weil du nicht mehr wusstest, dass du sie bereits gemacht hast?

Ja, ein einziges Mal ist mir das passiert, aber niemand hats gemerkt. Ich habs selber auch erst später bemerkt.

Wie geht das eigentlich technisch vor sich, wenn du von Cannes aus für die Zeitung zeichnest?

Ich schicke die Karikaturen per hundskommunes Fax. Ich bin gegen Computer und habe immer alle Geräte verschenkt, die ich aufgedrängt erhalten habe. Vermutlich würde die Redaktion von mir auch vermehrt farbige Karikaturen verlangen, wenn ich mit Computer und Modem ausgerüstet wäre, ich bin aber total gegen farbige Karikaturen.

Warum?

Aus ästhetischen und inhaltlichen Gründen. Die politische Karikatur verliert an Härte, wenn sie bunt gezeichnet ist. Wenn man die Tradition bei Angelsachsen oder Franzosen anschaut, dann sind jaall diese Karikaturen aus gutem Grund schwarzweiss.

Eines deiner erklärten Vorbilder als Karikaturist ist Paul Flora, auch Sempé gefällt dir. Gibt es Jüngere, die dir imponieren – oder verfolgst du die Szene nicht so stark?

Ich verfolge alles – ausser Comics, bei denen ich immer abschweife, weil mich die Geschichten langweilen. In der politischen Karikatur gibt es jedoch wenig Nachwuchs. Weder bei «Le Monde» noch bei der «Libération» oder den wichtigen deutschsprachigen Zeitungen sind bedeutende neue Talente zu erkennen.

Stirbt dein Gewerbe aus?

Nein, wir Älteren, Gestandenen hocken den Jungen heute einfach überall vor der Nase, sodass die sich gar nicht richtig entwickeln können. Zumal es auch keine Ausbildung gibt. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, dass ich nie von einer Kunstschule als Dozent angefragt wurde, um talentierte Zeichner, die Witz haben, zu politischen Karikaturisten auszubilden.

Kennst du denn einen guten Zeichner, der aus einem solchen Lehrgang hervorgegangen wäre? Wie wars bei dir?

Bei mir ist es autodidaktisch passiert, aber die Grundformen des Zeichnens habe ich doch in der Kunstgewerbeschule gelernt. Ein Lehrer entdeckte da, dass ich beim Porträtzeichnen leicht karikierte. Durch das leichte Verzerren kam ich schneller zur Ähnlichkeit als andere.

Genauer durch Übertreibung.

Genau. Zur Kenntlichkeit verzerrt.

Begonnen hat es also auch bei dir mit einer Kunstausbildung. Nun gelten die komischen Künste ja nicht richtig als Kunst. Wolltest du irgendwann etwas Ernsthaftes malen, um als wahrer Künstler anerkannt zu werden?

Es gab immer Kollegen, die gemalt haben. Ich weiss von Fredy Sigg, dass er gemalt hat, Peter Hürzeler malt, Hans Sigg sowieso. Ich selber würde nie malen. Das heisst, ich mache vielleicht schon humoristische Aquarelle, aber Malen als Künstler würde ich nicht. Es gibt so viel Tausende, die das machen . . .

Die Wertschätzung wäre eine andere.

Das ist mir wurst. Diesen Ehrgeiz habe ich nicht.

Aber das Vorurteil hast du schon gespürt?

Natürlich. Ich wurde schon zwei-, dreimal für den grossen Kunstpreis der Stadt Zürich vorgeschlagen. Das wurde freilich gar nie in Erwägung gezogen.

Wenn man an den «Tages-Anzeiger» der 60er- und 70er-Jahre denkt, dann erinnert man sich auch an radikale Journalisten, etwa an Niklaus Meienberg. Mit dem hast du dich aber seltsamerweise nicht so gut verstanden.

Das hatte eine Geschichte. Niklaus Meienberg verfasste eine Glosse auf einen Text, den Golo Mann für die «Weltwoche» geschrieben hatte. Das Problem war, man verstand die Glosse nicht, wenn man die «Weltwoche» nicht gelesen hatte. Also habe ich gesagt, dass ich mich weigere, diese Glosse zu illustrieren und dass ich sowieso dagegen sei, dass sie erscheint. Sie erschien aber dennoch, und es gab deswegen ein grosses Gestürm. Die Folge all dessen war, dass ich mit Niklaus Meienberg Streit hatte, nie etwas zu ihm zeichnete und er sich dies seinerseits auch vehement verbeten hätte. Später schrieb er dann in der WoZ einmal eine Doppelseite über politische Karikatur in der Schweiz, nur um darin meinen Namen nicht ein einziges Mal zu erwähnen. Es war unglaublich, welch negative Energie er mobilisieren konnte. Das war schade, denn politisch war ich mit ihm durchaus gleicher Meinung.

Sind wir Satiriker nicht vielleicht besonders gut im Austeilen, aber weich wie Pflaumen beim Einstecken?

Ich glaube nicht. Ich kann gut einstecken. Aber ich musste es lernen.

Welche Kritik macht dich auch heute noch sauer?

Wenn jemand schreibt, dass ich nicht aussehe wie Clark Gable.

Dabei siehst du aus wie Brad Pitt . . .

Mein jüngster Sohn rief mich letzthin an und sagte, er habe gar nicht gewusst, dass ich in einem Film mitspiele. Er bat mich France 3 einzuschalten, da sah ich Marlon Brando als 150-Kilo-Monstrum einen Psychiater spielen. Ich musste wahnsinnig lachen.

Empfindest du es nicht auch als grosses Privileg, dass wir unsere Wut in etwas Unterhaltsames verwandeln können?

Doch, es ist auch Psychohygiene.

Macht einen das aber nicht auch pessimistisch über die Entwicklung der Welt, weil die Probleme ja immer dieselben bleiben?

Zurzeit kann ich nur staunen, wie sich die Welt entwickelt – wenn ich etwa an George W. Bush oder Berlusconi denke. Ja: Pessimistisch bin ich manchmal, aber es knüppelt mich nicht nieder. Andererseits ist der Mensch halt einfach die schlimmste Kreatur der Schöpfung, das habe ich begriffen. Es gibt keine Fortschritte.

Du bist von Beginn an Pazifist gewesen und hast mit 19 Jahren Deutschland verlassen, weil du zum Militärdienst hättest einrücken müssen. Ist das eine Grundhaltung?

Ja. Ich musste schon beim «Nebelspalter» gehen, weil ich gegen den Vietnamkrieg und die Amerikaner anzeichnete. Der damalige Verleger fand das nicht lustig.

Aber beim Tagi teilt man deine politischen Haltungen?

Ja, es hat jedenfalls noch nie ein Verleger oder Konzernmanager oder Chefredaktor oder Redaktor versucht, meine Meinung zu ändern.

Kennst du jemanden anderen, der – so wie du – einfach zeichnen kann, was er will?

Von der Haltung her gab es ein Vorbild für mich: Die Geschichte von Vicky, der jahrzehntelang für den Londoner «Evening Standard» zeichnete. Vicky war ein ungarischer Kommunist, und dennoch wurde er vom bürgerlich-konservativen Besitzer des «Evening Standard» als Karikaturist angestellt. Der Besitzer sagte: «Meine eigene Meinung gezeichnet zu sehen, ist mir zu langweilig. Ich möchte wissen, was die anderen denken.» So verkaufe auch ich einem Freund und Kapitalisten meine Arbeitskraft – damit habe ich kein Problem -, aber nicht meine Seele. Die habe ich bereits dem Teufel verkauft.

Nico, ich danke dir für dieses Geständnis.

(Bearbeitung: Dominique Eigenmann)

«Ich bin total gegen farbige Karikaturen»

8. Juli 2003, Tages-Anzeiger

Der Karikaturist Nico feiert sein 35-Jahr-Jubiläum beim «Tages-Anzeiger». Viktor Giacobbo befragte ihn aus diesem Anlass zu Motiven, Provokationen und Pannen. […]

Ende 1989 erhielten Corinne Schelbert und ich vom TA-Magazin den Auftrag, eine Satire zum Jahreswechsel zu schreiben. Wir entschlossen uns zu einem Interview mit einem nicht-existierenden Zukunftsforscher, dem wir den Namen Werner Stolte-Benrath gaben. Jahre später verwendeten wir den Namen wieder für Patrick Freys Expertenfigur im Spätprogramm. Das Magazin lehnte den Beitrag ab und schliesslich wurde er in der Wochen-Zeitung publiziert. Die absichtlichen Fehler, Falschzitate und die pseudowissenschaftlichen Klischees hielten viele Leserinnen und Leser für ernst gemeint und reagierten mit empörten Leserbriefen. V.G.

 

Mit dem Zukunftsforscher und Politologen Werner Stolte-Benrath sprachen Corinne Schelbert und Viktor Giacobbo

Jahreswechsel sind gemeinhin Anlass zu gesellschaftspolitischen und philosophischen Exkursen über die Zukunft der Erde und der Menschheit. Jahrzehntewechsel erfordern geradezu kompetente Erörterung der Weltlage, zumal dann, wenn es auf das Ende eines Jahrtausends zugeht. Gefragt dabei sind allenthalben Experten, die sich berufshalber mit dem Lauf der Zeit beschäftigen, insbesondere mit der Analyse zukünftiger Entwicklungen auf weltpolitischem und globalökonomischem Gebiet.
Ein solcher Experte ist fraglos Werner Stolte-Benrath, Zukunftsforscher und Politologe mit Lehrstuhl für angewandte Semiotik und Kommunikationstheorie in Freiburg (BRD). Daneben ist der Wissenschaftler auf den vielfältigsten Gebieten aktiv: Mitglied der UNESCO-Task Force 2000, Co-Autor der CISPES-Studie zur demographischen Entwicklung Südosteuropas, Konsulent des UNO-Generalsekretariats für sozio-ökonomische Belange u.v.m. Werner Stolte-Benrath, der sich selber „disziplinierter Wanderer durch die Disziplinen“ nennt, fand sich in seiner Wohnung in Waldstett bei Freiburg zu einem Gespräch bereit.

Giacobbo: Herr Stolte-Benrath, die Menschheit steht vor dem letzten Jahrzehnt des Jahrtausends. Wissenschaftler aus allen Disziplinen geben der Menschheit und der Natur kaum noch Zukunftschancen. Steuert unsere Erde auf eine Katastrophe zu, mit anderen Worten, ist es wirklich fünf vor zwölf?

Stolte-Benrath: Pascal hat einmal gesagt: „Die Zukunft allein ist unser Zweck.“ Es scheint, unsere Generation hat ihre Zukunft verschleudert, hat den Zweck aus den Augen verloren. Die Jesuiten sagten: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ Doch heute sind uns nicht einmal mehr die Mittel heilig.

Schelbert: Können Sie uns ein konkretes Beispiel nennen?

Stolte-Benrath: Dafür gibt es hunderte Beispiele; lassen Sie mich nur eines nennen: die Regenwälder. Wir wussten um die essentielle Bedeutung der „grünen Lunge“ und doch haben wir passiv zugeschaut, wie die Drittweltländer systematisch die globalen Ressourcen zugrunde richteten. Letztlich sind aber wir schuld.

Schelbert: Wen meinen Sie mit wir?

Stolte-Benrath: Wir, die westlichen Industrienationen, die Glückskinder des Planeten Erde. Noch schwimmen wir auf einer Woge des Überflusses. Doch droht diese Welle noch vor der Jahrtausendwende zu brechen, und wir drohen nicht nur im Meer des Sinndefizits zu ertrinken, sondern auch von der zurückschlagenden Woge der Weltwirtschaftskrise überspült zu werden. Wir befinden uns bereits auf der Titanic. Dieses Armageddon habe ich im übrigen bereits in meinem Essay „Das ho-meerische Gelächter“ (Iris-Verlag, Recklinghausen; Anm. d. Verf.) skizziert.

Giacobbo: Und dieses „ho-meerische Gelächter“ wiederum interpretierten Sie als notwendiges Korrektiv zur westlichen Arroganz der Macht. Tritt der Westen damit eine lange Odyssee der schuldhaften Wiedergutmachung gegenüber den „Verdammten dieser Erde“, sprich Drittweltländer, an?

Stolte-Benrath: So ist es.

Schelbert: An anderer Stelle haben Sie diese westliche Arroganz der Macht als das männliche Prinzip denunziert, als die Doktrin der Vertikale, konträr zur „Horizontallage“ der Unterprivilegierten dieses Globus. Hat die Frau, das weibliche Prinzip, überhaupt noch eine Chance?

Stolte-Benrath: Die Geschlechterfrage wird zweifelsohne den gesellschaftspolitischen Diskurs im nächsten Jahrtausend dominieren, auch wenn einige der irrigen Meinung sind, das Problem sei ausdiskutiert. Noch ist zwar unser zwischenmenschliches Sein binär kodiert, doch die Vertikale zeigt bereits Ermüdungserscheinungen. Die beiden antagonistischen Blöcke Männlich-Weiblich stehen sich nicht mehr derartig unversöhnlich gegenüber, wie das noch vor wenigen Jahren der Fall war.

Giacobbo: Zurück zur Weltpolitik. Die schmerzliche Teilung Europas in eine westliche und eine östliche Hegemonialzone, wie sie es schon Tocqueville vorausgesehen hat…

Stolte-Benrath: Notabene: vor bereits 100 Jahren!

Giacobbo: …ist durch Gorbatschows Perestroika und die Propagierung des „gemeinsamen Hauses Europa“ in Auflösung begriffen und hat zum bis vor kurzem noch undenkbaren Abbruch der Berliner Mauer geführt. Neigt sich ein düsteres Kapitel europäischer Gegenwartsgeschichte seinem Ende zu?

Stolte-Benrath: In der Tat. Wenn wir schon nicht sagen können, wie Goethe nach der Schlacht von Valmy, nämlich dass wir dem Beginn einer neuen Epoche in der Weltgeschichte beigewohnt haben, dann doch wenigstens, dass ein neues Kapitel begonnen hat.

Schelbert: Im Gegensatz zur aktuellen Mann-Frau-Problematik scheint dieser Prozess irreversibel.

Stolte-Benrath: Es ist letztendlich Chruschtschows rigorosem Mut zu verdanken, als er bereits zwei Jahre vor dem schmählichen Ende des Stalinschen Terrorregimes, am vielzitierten 20. Parteitag im Jahre 1959, die Breschnew-Doktrin in Frage stellte und damit die Weichen für diesen Paradigmawechsel.

Giacobbo: Erfolgte aber nicht die Breschnew-Doktrin…

Stolte-Benrath: Ich weiss, einige Historiker schreiben dies auch dem Hallsteinschen Grundsatz zu. Aber Tatsache bleibt doch, dass unter Chruschtschow ein Gezeitenwechsel eingeläutet, die DDR gegründet und die Teilung Deutschlands besiegelt wurde. Ein monströses Monument aus Stein und Stacheldraht sollte Symbol für die willkürliche Trennung eines gewachsenen Volksganzen werden. (Gemeint ist die Berliner Mauer. Anm. d. Verf.)

Schelbert: Ein erst kürzlich überflüssig gewordenes Monument der Disharmonie, wie es mir auf der ganzen Welt – wenn auch unsichtbar – zwischen den Geschlechtern zu existieren scheint. Stichwort Emanzipation: Entwickeln sich die Autonomiebestrebungen in den Teilrepubliken des Vielvölkerstaats Sowjetunion zu einer Hypothek für Gorbatschows Reformkurs?

Stolte-Benrath: Eine der Parolen der streikenden Grubenarbeiter…

Schelbert: …und Grubenarbeiterinnen…

Stolte-Benrath: …in Nagorni Karabach und im Baltikum lautete: „Brecht die Macht der Funktionäre.“ Auch hier, wie am Brandenburger Tor, in Leipzig und anderswo erleben wir das selbstbewusste Aufbäumen einer nie gänzlich domestizierten Volksmasse. Eine deutlichere Bankrotterklärung an die kommunistische Nomenklatura kann ich mir gar nicht vorstellen.

Schelbert: Ein Aufbäumen geht aber durch die ganze Welt, scheint mir: Erstarkende soziale Bewegungen hier wie dort, protestierende Jugendliche in den europäischen Finanzmetropolen, islamische Frauen entledigen sich mit einer emanzipatorischen Geste ohnegleichen ihres Tschadors, unterdrückte Ethnien wie Sinti, Roma, Inuit, Samen, Kanaken…

Stolte-Benrath: …Papayas…

Schelbert: …fordern ihr Recht. Der afro-amerikanische Protest gegen den Neuen Rassismus, Non-Governmental Organizations (NGO) ersetzen die notorisch trägen staatlichen Organisationen, auf weltwirtschaftlichem Gebiet erstarken die NIC (Newly Industrialized Countries), auf den Philippinen erfolgte die Kampfansage der Prostituierten in den US-Militärbasen, Tierschützer zwingen die japanische Walfangflotte in die Knie, Rumäniendeutsche protestieren gegen den Grossen Conducteur, Afrikas jahrtausendelang zur Servilität gezwungenen Frauen fordern das Recht auf körperliche Selbstbestimmung, Stichwort Beschneidung der…

Giacobbo: Im geopolitischen Kontext kann man also von einer Minderheitenkoalition gegenüber der Politik der Herrschenden reden.

Schelbert: Lesben und Schwule erheben Anspruch auf Ehe, Adoption und andere Privilegien der Heterosexuellen – Herr Stolte-Benrath, versprechen diese Entwicklungen der vergangenen Dekaden ein Millenium von grösserer sozialer Gerechtigkeit?

Stolte-Benrath: Könnten Sie die Frage konkretisieren?

Giacobbo: Sie meint, die Interdependenz der sozialen Bewegungen und das wechselnde Gefälle der Nord-Süd-Achse erfordert eine Neudefinition des „globalen Dorfes“. Wie sehen Sie das?

Stolte-Benrath: Die globalökonomischen Strukturveränderungen erfordern flexible Antworten, flexible response, auf den Status quo. Machiavelli sagte: „Wo sie unrecht haben, helfen sie sich durch Gewalt.“ Die Herrschenden in Ost und West haben immense Ressourcen, den opportunen Status quo beizubehalten. Der Handlungswille der Entrechteten allein genügt nicht, denn gesellschaftliche Anachronismen werden nicht einfach so aus der Welt geschafft. Der Plebejer-Aufstand im Florenz der Medici wurde deshalb ausgerechnet durch die Vasallen des Ancien Régime verraten und nicht etwa, wie ganze Historikergenerationen annahmen, durch die Wölfe des Kapitols. Dante notierte damals: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muss.“ Diese Kritik freilich stiess ins Leere.

Giacobbo: Leere in Relevanz zur Freiheit?

Stolte-Benrath: Ja und nein. Sehen Sie, wir leben in einer Zeit des steten Wandels. Nehmen wir den ostasiatischen Raum, den Aufstieg Japans zur Welthandelsmacht, sprich die Heraufkunft der Pax Nipponica. Dies ist doch ein völlig neues geopolitisches Szenarium. Dieses Reich der Mitte, noch immer verhaftet im konfuzianischen Denken Lao Tses, ist unversehens in die High-Tech-Moderne von Sony, Mitsubishi und Yakuza katapultiert worden. Dennoch: Hinter der Kirschblütenidylle der grazilen und smarten Japaner verbirgt sich eine rigide Clan-Ideologie. Doch auch die herrschenden Neo-Samurais können sich der dynamischen Neuzeit nicht verschliessen. Ich rede von dem rasanten Auftrieb der Sozialisten, die, für Japan ein absolutes Novum, von einer Frau angeführt werden, deren Name mir im Moment entfallen ist.

Schelbert: Die Medaille freilich hat eine Kehrseite. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die skandalösen Verhältnisse im Tertiärsektor, da wo Japan seine weiblichen Dienstboten aus den ostasiatischen Schwellenländern wie etwa die Philippinen importiert. Diese gewissermassen proletarischen Geishas werden in der sich zunehmend imperialistisch gebärdenden Nation oft noch zur Prostitution gezwungen.

Stolte-Benrath: Doch schon dämmert im Land der untergehenden Sonne eine Rezession am Horizont. Auch der Japaner wird schon bald seinen Kimono-Gürtel enger schnallen müssen.

Giacobbo: „Ost ist Ost, und West ist West, und niemals treffen sich die beiden“, meinte einst Kipling. Nun haben sich aber Ost und West, zumindest auf weltwirtschaftlichem Gebiet, getroffen. Steht uns darüber hinaus eine fernöstliche Kulturinvasion ins Haus?

Stolte-Benrath: Ex oriente lux… Fernöstliches Gedankengut hat uns schon als New-Age-Syndrom heimgeleuchtet. Dennoch bin ich überzeugt, dass wir nach den Ost-Anleihen der westlichen Mao-Jünger, dem adaptierten Zen-Buddhismus, Hermann Hesses Taoismus-Fixiertheit sowie die noch unlängst grassierende Bonsai-Bewegung den Zenith überschritten haben und uns eher wieder abendländischen Werten zuwenden. Ergo: Ex okzidente lux, lautet heute die Devise.

Giacobbo: Die Bankrotterklärung des New Age?

Stolte-Benrath: Alle Anzeichen sprechen dafür. Die Adepten des New Age sind angetreten mit dem Anspruch, die Sinnkrise des Westens zu überwinden. New Age war aber lediglich ein weiterer Stolperstein auf dem dornenreichen Weg zur kulturellen Ich-Findung. Das Surrogat New Age konnte das Dilemma des Hegelschen unbehausten Menschen nicht lösen und perpetuierte nur die Sinnentleerung der westlichen Zivilisation.

Giacobbo: Kann die Postmoderne dieses Vakuum füllen?

Stolte-Benrath: Die Zeit wird es weisen.

Schelbert: Handelt es sich bei der Postmoderne nicht wie beim Postfeminismus bloss um eine raffinierte Inszenierung, um das latente Emotionsdefizit zwischen den Geschlechtern zu kaschieren?

Stolte-Benrath: Die von den Apologeten des Patriarchats in Misskredit gebrachte „Dämmerung des Subjekts“ stellt doch das grösste Hoffnungspotential für die Neue Menschwerdung dar. Die Frage ist nur: Haben wir Männer, besessen vom kategorischen Kopulativ (schmunzelt), die Chance nicht bereits verwirkt, die Mitverantwortung für den viszeralen Bereich zu übernehmen? Das heisst, der Neue Mann der kommenden Dekade wird seine narzisstische Hülle abstreifen und gegenüber eines maternalistischen Lebensentwurfs seine Offenheit bekunden müssen.

Giacobbo: Sind denn die kodierten Autonomiegelüste des Mannes auf gewisse weibliche Domänen nicht die konsequente Reaktion auf…

Schelbert: Der Mann wird seine Offenheit bekunden müssen, gleichzeitig aber Veränderungen einer quasi chauvinismus-fixierten Massenkultur seismographisch registrieren.

Stolte-Benrath: Ganz recht.

Giacobbo: Der Mann muss einfach enorm sensibel bleiben. Doch nun zum Stichwort Massenkultur. Umberto Eco schreibt in seiner „Kritischen Kritik der Massenkultur“, dass die sogenannte „niedere“ Kultur immer mit der „höheren“ Kultur interagiert. Bedeutet die gigantische globale Vermarktungsstrategie einer Medienproduktion à la „Batman“ längerfristig das Aus für die angestammte europäische E-Kultur?

Stolte-Benrath: Diese menschenverachtenden Walt-Disney-Figuren oder auch der von Ihnen genannte Superman leisten einer postnatalen Kreativitätsentwicklung schon seit Generationen eigentliche Bärendienste. Nachdem die „hostile takeovers“ durch Übernahmespezialisten, Stichwort Junk Bonds, oder durch dubiose Medienmoguln auch vor den grossen Filmproduktionsgesellschaften nicht halt gemacht haben, wird die Vermarktung von Medienprodukten immer dreister. Während früher lediglich billige James-Bond-Heftchen den Markt überschwemmten, wird heute einem bedenkenlosen Merchandising Tür und Tor geöffnet. Der Schriftsteller und Professor Adolf Muschg schrieb jüngst in der renommierten Zeitschrift „Magazin“: „Der Markt kennt keine Grenzen, und am begehrlichsten leckt er an seinen Rändern.“

Schelbert: Herr Stolte-Benrath, im Breisgau beobachten Sie das zeitgenössische Geschehen in der Schweiz gewissermassen als Zaungast. Auf unser Land kommt im Laufe des nächsten Jahrzehnts ein ganzes Problempaket zu. Ein wichtiges Datum dürfte das Jahr 1992 werden. Wird die Schweiz nach der Einführung des EG-Binnenmarktes ins Abseits gedrängt?

Stolte-Benrath: „Was Europa nach innen aus sich macht, wird das Mass dafür sein, wie es nach aussen wirkt“, stellt Muschg im „Magazin“ sehr richtig fest. Die Schweiz war schon immer ein Sonderfall in Europa und wird es auch bleiben. Hans A. Pestalozzi, ein Schweizer Pädagoge und Denker…

Schelbert: Ein Schlaumeier nannte ihn einst den James Last der Philosophie!

Stolte-Benrath: …dem ich mich sehr verbunden fühle, meinte: „Völker und Nationen sind und werden im allgemeinen nie glücklicher, als die es verdienen.“ Ob sich die Schweiz als glückliche Nation erweisen wird, kann nach der Ablehnung des EG-Beitritts zumindest bezweifelt werden. Die CH 91 kann die EG 92 nicht ersetzen.

Schelbert: Aber die Herausforderung Europa wird die Schweiz nicht ausschlagen können – ich denke da an die 40-Tonnen-Limite.

Stolte-Benrath: Man kann die Bedeutung Europas nicht in Tonnen aufrechnen. Die Schweiz bildet aufgrund ihrer geographischen Lage im Herzen Europas das Scharnier zwischen Nord und Süd. Sie kann sich nicht aus ihrer Verantwortung stehlen. Mein kluger Kollege Muschg meint hierzu im „Magazin“: „Nur als Überlebensfrage behandelt, ist die Aufgabe nicht lösbar; als Lebensfrage ernst genommen, bietet sie die Chance, uns für eine neue, nicht auf Europa beschränkte Wir-Form zu qualifizieren.“

Giacobbo: Was schlagen Sie konkret vor?

Stolte-Benrath: Die Schweiz, dieses föderalistische Gebilde, diese grandiose Wiege der Demokratie, bekannt für ihre stabile politische Lage, die herrlichen Landschaften und Spezialitäten, dieses glückliche Land, wo, lassen Sie es mich einmal so sagen: Milch und Schokolade fliessen…

Giacobbo: Ich meine bezüglich Verkehrspolitik.

Stolte-Benrath: Um dem stetig wachsenden Verkehrsaufkommen Herr zu werden und um die hohen Kosten des Transitverkehrs auf den Autobahnen zu bewältigen, sollte die Schweiz eine Autobahngebühr einführen. Ich stelle mir eine Art Plakette vor, die jeder Autobahnbenützer an seine Windschutzscheibe heften müsste. Nur auf diese Weise…

Schelbert: Sie meinen die Autobahnvignette?

Stolte-Benrath: Nun, wie die Schweizer das dann nennen werden, möchte ich ihnen überlassen. Aber tatsächlich, Vignette ist ein treffender Begriff. Er bedeutet Weinranke und erinnert mich vor allem an die vollmundigen Walliser Weine.

Giacobbo: Stichwort Wallis. Ein wesentlicher Bestandteil unserer Verkehrspolitik stellen die Pläne für einen Simplon-Basistunnel dar, auch die zweite Gotthardröhre kommt vermehrt ins Gespräch…

Schelbert: Herr Stolte-Benrath, eine Autobahnvignette ist bereits seit einigen Jahren eingeführt. Sie kostet 100 Franken.

Stolte-Benrath: Tatsächlich?

Giacobbo: Sie kostet lediglich 40 Franken. Aber das neue Halbtaxabonnement ist für bereits 100 Franken zu haben.

Stolte-Benrath: Die Bahn 2000 fordert natürlich auch ihren energiepolitischen Tribut. Deshalb heisst es jetzt, wie Hans Rehfisch sagte, das Gewissen als Zwilling der Vernunft zu akzeptieren. D.h. der Bundesrat müsste nun nach der Stillegung der Atomkraftwerke Gösgen und Kaiseraugst auch dem Schnellen Brüter in Crey-Malville sobald wie möglich die Gefolgschaft aufkündigen. Unsere nachkommenden Generationen…

Schelbert: Herr Stolte-Benrath, die Zeilen dieses Interviews sind bereits verstrichen, wir müssen leider zum Ende kommen.

Stolte-Benrath: Frau Gilberte, Herr Jacomo, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.


Bibliographie
„Das ho-meerische Gelächter“, Essay, Iris-Verlag, Stuttgart und Bern, 1985.
„Weltwirtschaft als Faszinosum“, Capitol-Verlag, Salzburg, 1983.
„Versuch über das Dringliche“, Essay, Hilde-Marie von Wart Verlag, Recklinghausen, 1979.
„Seneca überquert den Rubikon“, szenischer Dialog, Thalia-Publikationen, Flensburg, 1987.
„Das Zeichen in der Kultur der 70er Jahre“, Vorlesung, Universitätsverlag Heidelberg, 1981.
„Blickpunkt 2000“, Utopia-Press, Berlin, 1988.

„Heute sind uns nicht einmal mehr die Mittel heilig“

22. Dezember 1989, WoZ

Ende 1989 erhielten Corinne Schelbert und ich vom TA-Magazin den Auftrag, eine Satire zum Jahreswechsel zu schreiben. Wir entschlossen uns […]

2017