Viktor Giacobbo

WoZ, 22. Dezember 1989

„Heute sind uns nicht einmal mehr die Mittel heilig“

Ende 1989 erhielten Corinne Schelbert und ich vom TA-Magazin den Auftrag, eine Satire zum Jahreswechsel zu schreiben. Wir entschlossen uns zu einem Interview mit einem nicht-existierenden Zukunftsforscher, dem wir den Namen Werner Stolte-Benrath gaben. Jahre später verwendeten wir den Namen wieder für Patrick Freys Expertenfigur im Spätprogramm. Das Magazin lehnte den Beitrag ab und schliesslich wurde er in der Wochen-Zeitung publiziert. Die absichtlichen Fehler, Falschzitate und die pseudowissenschaftlichen Klischees hielten viele Leserinnen und Leser für ernst gemeint und reagierten mit empörten Leserbriefen. V.G.

 

Mit dem Zukunftsforscher und Politologen Werner Stolte-Benrath sprachen Corinne Schelbert und Viktor Giacobbo

Jahreswechsel sind gemeinhin Anlass zu gesellschaftspolitischen und philosophischen Exkursen über die Zukunft der Erde und der Menschheit. Jahrzehntewechsel erfordern geradezu kompetente Erörterung der Weltlage, zumal dann, wenn es auf das Ende eines Jahrtausends zugeht. Gefragt dabei sind allenthalben Experten, die sich berufshalber mit dem Lauf der Zeit beschäftigen, insbesondere mit der Analyse zukünftiger Entwicklungen auf weltpolitischem und globalökonomischem Gebiet.
Ein solcher Experte ist fraglos Werner Stolte-Benrath, Zukunftsforscher und Politologe mit Lehrstuhl für angewandte Semiotik und Kommunikationstheorie in Freiburg (BRD). Daneben ist der Wissenschaftler auf den vielfältigsten Gebieten aktiv: Mitglied der UNESCO-Task Force 2000, Co-Autor der CISPES-Studie zur demographischen Entwicklung Südosteuropas, Konsulent des UNO-Generalsekretariats für sozio-ökonomische Belange u.v.m. Werner Stolte-Benrath, der sich selber „disziplinierter Wanderer durch die Disziplinen“ nennt, fand sich in seiner Wohnung in Waldstett bei Freiburg zu einem Gespräch bereit.

Giacobbo: Herr Stolte-Benrath, die Menschheit steht vor dem letzten Jahrzehnt des Jahrtausends. Wissenschaftler aus allen Disziplinen geben der Menschheit und der Natur kaum noch Zukunftschancen. Steuert unsere Erde auf eine Katastrophe zu, mit anderen Worten, ist es wirklich fünf vor zwölf?

Stolte-Benrath: Pascal hat einmal gesagt: „Die Zukunft allein ist unser Zweck.“ Es scheint, unsere Generation hat ihre Zukunft verschleudert, hat den Zweck aus den Augen verloren. Die Jesuiten sagten: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ Doch heute sind uns nicht einmal mehr die Mittel heilig.

Schelbert: Können Sie uns ein konkretes Beispiel nennen?

Stolte-Benrath: Dafür gibt es hunderte Beispiele; lassen Sie mich nur eines nennen: die Regenwälder. Wir wussten um die essentielle Bedeutung der „grünen Lunge“ und doch haben wir passiv zugeschaut, wie die Drittweltländer systematisch die globalen Ressourcen zugrunde richteten. Letztlich sind aber wir schuld.

Schelbert: Wen meinen Sie mit wir?

Stolte-Benrath: Wir, die westlichen Industrienationen, die Glückskinder des Planeten Erde. Noch schwimmen wir auf einer Woge des Überflusses. Doch droht diese Welle noch vor der Jahrtausendwende zu brechen, und wir drohen nicht nur im Meer des Sinndefizits zu ertrinken, sondern auch von der zurückschlagenden Woge der Weltwirtschaftskrise überspült zu werden. Wir befinden uns bereits auf der Titanic. Dieses Armageddon habe ich im übrigen bereits in meinem Essay „Das ho-meerische Gelächter“ (Iris-Verlag, Recklinghausen; Anm. d. Verf.) skizziert.

Giacobbo: Und dieses „ho-meerische Gelächter“ wiederum interpretierten Sie als notwendiges Korrektiv zur westlichen Arroganz der Macht. Tritt der Westen damit eine lange Odyssee der schuldhaften Wiedergutmachung gegenüber den „Verdammten dieser Erde“, sprich Drittweltländer, an?

Stolte-Benrath: So ist es.

Schelbert: An anderer Stelle haben Sie diese westliche Arroganz der Macht als das männliche Prinzip denunziert, als die Doktrin der Vertikale, konträr zur „Horizontallage“ der Unterprivilegierten dieses Globus. Hat die Frau, das weibliche Prinzip, überhaupt noch eine Chance?

Stolte-Benrath: Die Geschlechterfrage wird zweifelsohne den gesellschaftspolitischen Diskurs im nächsten Jahrtausend dominieren, auch wenn einige der irrigen Meinung sind, das Problem sei ausdiskutiert. Noch ist zwar unser zwischenmenschliches Sein binär kodiert, doch die Vertikale zeigt bereits Ermüdungserscheinungen. Die beiden antagonistischen Blöcke Männlich-Weiblich stehen sich nicht mehr derartig unversöhnlich gegenüber, wie das noch vor wenigen Jahren der Fall war.

Giacobbo: Zurück zur Weltpolitik. Die schmerzliche Teilung Europas in eine westliche und eine östliche Hegemonialzone, wie sie es schon Tocqueville vorausgesehen hat…

Stolte-Benrath: Notabene: vor bereits 100 Jahren!

Giacobbo: …ist durch Gorbatschows Perestroika und die Propagierung des „gemeinsamen Hauses Europa“ in Auflösung begriffen und hat zum bis vor kurzem noch undenkbaren Abbruch der Berliner Mauer geführt. Neigt sich ein düsteres Kapitel europäischer Gegenwartsgeschichte seinem Ende zu?

Stolte-Benrath: In der Tat. Wenn wir schon nicht sagen können, wie Goethe nach der Schlacht von Valmy, nämlich dass wir dem Beginn einer neuen Epoche in der Weltgeschichte beigewohnt haben, dann doch wenigstens, dass ein neues Kapitel begonnen hat.

Schelbert: Im Gegensatz zur aktuellen Mann-Frau-Problematik scheint dieser Prozess irreversibel.

Stolte-Benrath: Es ist letztendlich Chruschtschows rigorosem Mut zu verdanken, als er bereits zwei Jahre vor dem schmählichen Ende des Stalinschen Terrorregimes, am vielzitierten 20. Parteitag im Jahre 1959, die Breschnew-Doktrin in Frage stellte und damit die Weichen für diesen Paradigmawechsel.

Giacobbo: Erfolgte aber nicht die Breschnew-Doktrin…

Stolte-Benrath: Ich weiss, einige Historiker schreiben dies auch dem Hallsteinschen Grundsatz zu. Aber Tatsache bleibt doch, dass unter Chruschtschow ein Gezeitenwechsel eingeläutet, die DDR gegründet und die Teilung Deutschlands besiegelt wurde. Ein monströses Monument aus Stein und Stacheldraht sollte Symbol für die willkürliche Trennung eines gewachsenen Volksganzen werden. (Gemeint ist die Berliner Mauer. Anm. d. Verf.)

Schelbert: Ein erst kürzlich überflüssig gewordenes Monument der Disharmonie, wie es mir auf der ganzen Welt – wenn auch unsichtbar – zwischen den Geschlechtern zu existieren scheint. Stichwort Emanzipation: Entwickeln sich die Autonomiebestrebungen in den Teilrepubliken des Vielvölkerstaats Sowjetunion zu einer Hypothek für Gorbatschows Reformkurs?

Stolte-Benrath: Eine der Parolen der streikenden Grubenarbeiter…

Schelbert: …und Grubenarbeiterinnen…

Stolte-Benrath: …in Nagorni Karabach und im Baltikum lautete: „Brecht die Macht der Funktionäre.“ Auch hier, wie am Brandenburger Tor, in Leipzig und anderswo erleben wir das selbstbewusste Aufbäumen einer nie gänzlich domestizierten Volksmasse. Eine deutlichere Bankrotterklärung an die kommunistische Nomenklatura kann ich mir gar nicht vorstellen.

Schelbert: Ein Aufbäumen geht aber durch die ganze Welt, scheint mir: Erstarkende soziale Bewegungen hier wie dort, protestierende Jugendliche in den europäischen Finanzmetropolen, islamische Frauen entledigen sich mit einer emanzipatorischen Geste ohnegleichen ihres Tschadors, unterdrückte Ethnien wie Sinti, Roma, Inuit, Samen, Kanaken…

Stolte-Benrath: …Papayas…

Schelbert: …fordern ihr Recht. Der afro-amerikanische Protest gegen den Neuen Rassismus, Non-Governmental Organizations (NGO) ersetzen die notorisch trägen staatlichen Organisationen, auf weltwirtschaftlichem Gebiet erstarken die NIC (Newly Industrialized Countries), auf den Philippinen erfolgte die Kampfansage der Prostituierten in den US-Militärbasen, Tierschützer zwingen die japanische Walfangflotte in die Knie, Rumäniendeutsche protestieren gegen den Grossen Conducteur, Afrikas jahrtausendelang zur Servilität gezwungenen Frauen fordern das Recht auf körperliche Selbstbestimmung, Stichwort Beschneidung der…

Giacobbo: Im geopolitischen Kontext kann man also von einer Minderheitenkoalition gegenüber der Politik der Herrschenden reden.

Schelbert: Lesben und Schwule erheben Anspruch auf Ehe, Adoption und andere Privilegien der Heterosexuellen – Herr Stolte-Benrath, versprechen diese Entwicklungen der vergangenen Dekaden ein Millenium von grösserer sozialer Gerechtigkeit?

Stolte-Benrath: Könnten Sie die Frage konkretisieren?

Giacobbo: Sie meint, die Interdependenz der sozialen Bewegungen und das wechselnde Gefälle der Nord-Süd-Achse erfordert eine Neudefinition des „globalen Dorfes“. Wie sehen Sie das?

Stolte-Benrath: Die globalökonomischen Strukturveränderungen erfordern flexible Antworten, flexible response, auf den Status quo. Machiavelli sagte: „Wo sie unrecht haben, helfen sie sich durch Gewalt.“ Die Herrschenden in Ost und West haben immense Ressourcen, den opportunen Status quo beizubehalten. Der Handlungswille der Entrechteten allein genügt nicht, denn gesellschaftliche Anachronismen werden nicht einfach so aus der Welt geschafft. Der Plebejer-Aufstand im Florenz der Medici wurde deshalb ausgerechnet durch die Vasallen des Ancien Régime verraten und nicht etwa, wie ganze Historikergenerationen annahmen, durch die Wölfe des Kapitols. Dante notierte damals: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muss.“ Diese Kritik freilich stiess ins Leere.

Giacobbo: Leere in Relevanz zur Freiheit?

Stolte-Benrath: Ja und nein. Sehen Sie, wir leben in einer Zeit des steten Wandels. Nehmen wir den ostasiatischen Raum, den Aufstieg Japans zur Welthandelsmacht, sprich die Heraufkunft der Pax Nipponica. Dies ist doch ein völlig neues geopolitisches Szenarium. Dieses Reich der Mitte, noch immer verhaftet im konfuzianischen Denken Lao Tses, ist unversehens in die High-Tech-Moderne von Sony, Mitsubishi und Yakuza katapultiert worden. Dennoch: Hinter der Kirschblütenidylle der grazilen und smarten Japaner verbirgt sich eine rigide Clan-Ideologie. Doch auch die herrschenden Neo-Samurais können sich der dynamischen Neuzeit nicht verschliessen. Ich rede von dem rasanten Auftrieb der Sozialisten, die, für Japan ein absolutes Novum, von einer Frau angeführt werden, deren Name mir im Moment entfallen ist.

Schelbert: Die Medaille freilich hat eine Kehrseite. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die skandalösen Verhältnisse im Tertiärsektor, da wo Japan seine weiblichen Dienstboten aus den ostasiatischen Schwellenländern wie etwa die Philippinen importiert. Diese gewissermassen proletarischen Geishas werden in der sich zunehmend imperialistisch gebärdenden Nation oft noch zur Prostitution gezwungen.

Stolte-Benrath: Doch schon dämmert im Land der untergehenden Sonne eine Rezession am Horizont. Auch der Japaner wird schon bald seinen Kimono-Gürtel enger schnallen müssen.

Giacobbo: „Ost ist Ost, und West ist West, und niemals treffen sich die beiden“, meinte einst Kipling. Nun haben sich aber Ost und West, zumindest auf weltwirtschaftlichem Gebiet, getroffen. Steht uns darüber hinaus eine fernöstliche Kulturinvasion ins Haus?

Stolte-Benrath: Ex oriente lux… Fernöstliches Gedankengut hat uns schon als New-Age-Syndrom heimgeleuchtet. Dennoch bin ich überzeugt, dass wir nach den Ost-Anleihen der westlichen Mao-Jünger, dem adaptierten Zen-Buddhismus, Hermann Hesses Taoismus-Fixiertheit sowie die noch unlängst grassierende Bonsai-Bewegung den Zenith überschritten haben und uns eher wieder abendländischen Werten zuwenden. Ergo: Ex okzidente lux, lautet heute die Devise.

Giacobbo: Die Bankrotterklärung des New Age?

Stolte-Benrath: Alle Anzeichen sprechen dafür. Die Adepten des New Age sind angetreten mit dem Anspruch, die Sinnkrise des Westens zu überwinden. New Age war aber lediglich ein weiterer Stolperstein auf dem dornenreichen Weg zur kulturellen Ich-Findung. Das Surrogat New Age konnte das Dilemma des Hegelschen unbehausten Menschen nicht lösen und perpetuierte nur die Sinnentleerung der westlichen Zivilisation.

Giacobbo: Kann die Postmoderne dieses Vakuum füllen?

Stolte-Benrath: Die Zeit wird es weisen.

Schelbert: Handelt es sich bei der Postmoderne nicht wie beim Postfeminismus bloss um eine raffinierte Inszenierung, um das latente Emotionsdefizit zwischen den Geschlechtern zu kaschieren?

Stolte-Benrath: Die von den Apologeten des Patriarchats in Misskredit gebrachte „Dämmerung des Subjekts“ stellt doch das grösste Hoffnungspotential für die Neue Menschwerdung dar. Die Frage ist nur: Haben wir Männer, besessen vom kategorischen Kopulativ (schmunzelt), die Chance nicht bereits verwirkt, die Mitverantwortung für den viszeralen Bereich zu übernehmen? Das heisst, der Neue Mann der kommenden Dekade wird seine narzisstische Hülle abstreifen und gegenüber eines maternalistischen Lebensentwurfs seine Offenheit bekunden müssen.

Giacobbo: Sind denn die kodierten Autonomiegelüste des Mannes auf gewisse weibliche Domänen nicht die konsequente Reaktion auf…

Schelbert: Der Mann wird seine Offenheit bekunden müssen, gleichzeitig aber Veränderungen einer quasi chauvinismus-fixierten Massenkultur seismographisch registrieren.

Stolte-Benrath: Ganz recht.

Giacobbo: Der Mann muss einfach enorm sensibel bleiben. Doch nun zum Stichwort Massenkultur. Umberto Eco schreibt in seiner „Kritischen Kritik der Massenkultur“, dass die sogenannte „niedere“ Kultur immer mit der „höheren“ Kultur interagiert. Bedeutet die gigantische globale Vermarktungsstrategie einer Medienproduktion à la „Batman“ längerfristig das Aus für die angestammte europäische E-Kultur?

Stolte-Benrath: Diese menschenverachtenden Walt-Disney-Figuren oder auch der von Ihnen genannte Superman leisten einer postnatalen Kreativitätsentwicklung schon seit Generationen eigentliche Bärendienste. Nachdem die „hostile takeovers“ durch Übernahmespezialisten, Stichwort Junk Bonds, oder durch dubiose Medienmoguln auch vor den grossen Filmproduktionsgesellschaften nicht halt gemacht haben, wird die Vermarktung von Medienprodukten immer dreister. Während früher lediglich billige James-Bond-Heftchen den Markt überschwemmten, wird heute einem bedenkenlosen Merchandising Tür und Tor geöffnet. Der Schriftsteller und Professor Adolf Muschg schrieb jüngst in der renommierten Zeitschrift „Magazin“: „Der Markt kennt keine Grenzen, und am begehrlichsten leckt er an seinen Rändern.“

Schelbert: Herr Stolte-Benrath, im Breisgau beobachten Sie das zeitgenössische Geschehen in der Schweiz gewissermassen als Zaungast. Auf unser Land kommt im Laufe des nächsten Jahrzehnts ein ganzes Problempaket zu. Ein wichtiges Datum dürfte das Jahr 1992 werden. Wird die Schweiz nach der Einführung des EG-Binnenmarktes ins Abseits gedrängt?

Stolte-Benrath: „Was Europa nach innen aus sich macht, wird das Mass dafür sein, wie es nach aussen wirkt“, stellt Muschg im „Magazin“ sehr richtig fest. Die Schweiz war schon immer ein Sonderfall in Europa und wird es auch bleiben. Hans A. Pestalozzi, ein Schweizer Pädagoge und Denker…

Schelbert: Ein Schlaumeier nannte ihn einst den James Last der Philosophie!

Stolte-Benrath: …dem ich mich sehr verbunden fühle, meinte: „Völker und Nationen sind und werden im allgemeinen nie glücklicher, als die es verdienen.“ Ob sich die Schweiz als glückliche Nation erweisen wird, kann nach der Ablehnung des EG-Beitritts zumindest bezweifelt werden. Die CH 91 kann die EG 92 nicht ersetzen.

Schelbert: Aber die Herausforderung Europa wird die Schweiz nicht ausschlagen können – ich denke da an die 40-Tonnen-Limite.

Stolte-Benrath: Man kann die Bedeutung Europas nicht in Tonnen aufrechnen. Die Schweiz bildet aufgrund ihrer geographischen Lage im Herzen Europas das Scharnier zwischen Nord und Süd. Sie kann sich nicht aus ihrer Verantwortung stehlen. Mein kluger Kollege Muschg meint hierzu im „Magazin“: „Nur als Überlebensfrage behandelt, ist die Aufgabe nicht lösbar; als Lebensfrage ernst genommen, bietet sie die Chance, uns für eine neue, nicht auf Europa beschränkte Wir-Form zu qualifizieren.“

Giacobbo: Was schlagen Sie konkret vor?

Stolte-Benrath: Die Schweiz, dieses föderalistische Gebilde, diese grandiose Wiege der Demokratie, bekannt für ihre stabile politische Lage, die herrlichen Landschaften und Spezialitäten, dieses glückliche Land, wo, lassen Sie es mich einmal so sagen: Milch und Schokolade fliessen…

Giacobbo: Ich meine bezüglich Verkehrspolitik.

Stolte-Benrath: Um dem stetig wachsenden Verkehrsaufkommen Herr zu werden und um die hohen Kosten des Transitverkehrs auf den Autobahnen zu bewältigen, sollte die Schweiz eine Autobahngebühr einführen. Ich stelle mir eine Art Plakette vor, die jeder Autobahnbenützer an seine Windschutzscheibe heften müsste. Nur auf diese Weise…

Schelbert: Sie meinen die Autobahnvignette?

Stolte-Benrath: Nun, wie die Schweizer das dann nennen werden, möchte ich ihnen überlassen. Aber tatsächlich, Vignette ist ein treffender Begriff. Er bedeutet Weinranke und erinnert mich vor allem an die vollmundigen Walliser Weine.

Giacobbo: Stichwort Wallis. Ein wesentlicher Bestandteil unserer Verkehrspolitik stellen die Pläne für einen Simplon-Basistunnel dar, auch die zweite Gotthardröhre kommt vermehrt ins Gespräch…

Schelbert: Herr Stolte-Benrath, eine Autobahnvignette ist bereits seit einigen Jahren eingeführt. Sie kostet 100 Franken.

Stolte-Benrath: Tatsächlich?

Giacobbo: Sie kostet lediglich 40 Franken. Aber das neue Halbtaxabonnement ist für bereits 100 Franken zu haben.

Stolte-Benrath: Die Bahn 2000 fordert natürlich auch ihren energiepolitischen Tribut. Deshalb heisst es jetzt, wie Hans Rehfisch sagte, das Gewissen als Zwilling der Vernunft zu akzeptieren. D.h. der Bundesrat müsste nun nach der Stillegung der Atomkraftwerke Gösgen und Kaiseraugst auch dem Schnellen Brüter in Crey-Malville sobald wie möglich die Gefolgschaft aufkündigen. Unsere nachkommenden Generationen…

Schelbert: Herr Stolte-Benrath, die Zeilen dieses Interviews sind bereits verstrichen, wir müssen leider zum Ende kommen.

Stolte-Benrath: Frau Gilberte, Herr Jacomo, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.


Bibliographie
„Das ho-meerische Gelächter“, Essay, Iris-Verlag, Stuttgart und Bern, 1985.
„Weltwirtschaft als Faszinosum“, Capitol-Verlag, Salzburg, 1983.
„Versuch über das Dringliche“, Essay, Hilde-Marie von Wart Verlag, Recklinghausen, 1979.
„Seneca überquert den Rubikon“, szenischer Dialog, Thalia-Publikationen, Flensburg, 1987.
„Das Zeichen in der Kultur der 70er Jahre“, Vorlesung, Universitätsverlag Heidelberg, 1981.
„Blickpunkt 2000“, Utopia-Press, Berlin, 1988.

2017