Viktor Giacobbo

30. September 2012

Feliner Sopran

„Katzenmusik und Katerstimmung“ (Herausgeberin: Elke Heidenreich, C. Bertelsmann)

Meine zwei Katzen sind nicht unmusikalisch. Die beiden Geschwister sind einfach in erster Linie hundslausige Schauspieler. Ich weiss, im Musiktheater scheint das nicht unbedingt ein Karrierehindernis zu sein, wie schwergewichtige und nicht mehr ganz junge Opernstars (Karnivoren!) zeigen, wenn sie gemäss Libretto verliebte Teenager auf die Bühne chargieren müssen. Mein Kater versucht seit Jahren – meist pantomimisch, selten auch lautmalerisch – mit szenischen Darbietungen zum Thema „extreme Hungersnot“ Fressbares zu erschleichen. Der Publikumserfolg ist häufig enorm, aber das Spiel bringt ihm in der Regel keine Naturalgage ein, weil niemand von der vulgarisierten Stanislawski-Inszenierung auf eine tatsächliche existenzielle Not schliesst. Als leicht übergewichtiger Haustiger ist er in dieser Rolle natürlich auch nicht optimal besetzt. Aber als vierbeiniger Standup ist er top – mit komischem Overacting kann er praktisch immer punkten.

Seine Schwester hat da etwas mehr Stil. Ich vermute, auch als Katze kennt sie gegenüber ihrem Bruder das bei Menschen offenbar zur Zeit viel gefühlte Fremdschämen. Wenn’s nichts zu Fressen gibt, wird kein Theater gemacht. Sie kratzt wörtlich die Kurve, holt sich draussen selbstbewusst eine Lebendnahrung, zwängt diese mit einem verkniffenen Jodel (schwierig zu artikulieren mit einer fetten Schermaus im Raubtiergebiss) durch die Katzenklappe, klatscht die bereits angefressene Beute gegen die weissen Wohnzimmerwände, um mich mit kleinen Mäuseblutspritzern für den verweigerten Futterservice zu bestrafen. Ärgerlich, wenn auch souverän und darstellerisch makellos.

Das übliche Kreischen von balzenden Hauskatzen zur jeweiligen Brunstzeit habe ich von meinen beiden pelzigen Mitbewohnern selten oder nie gehört. Na ja, sie sind ja auch nicht mehr im Vollbesitz der zur Fortpflanzung notwendigen Organe. Singen eigentlich auch kätzische Kastraten um einige Oktaven höher? Egal. Wenn ich das Balzgeschrei höre, dann ordne ich es stets fremden ordinären Katzen zu. Meine beiden sehe ich zwar in dunkler, erotikgeschwängerter Nacht nicht wirklich, aber ich stelle sie mir einfach vor, wie sie das befremdliche Treiben der virilen Konkurrenten verwundert bis missbilligend verfolgen. Um sich dann entspannt in meinen Salbeipflanzen zu versäubern.
Während sie also im häuslichen Alltag zu den eher lautlosen Mimen gehören, wechseln sie unterwegs sofort das Genre und werden zu leidenschaftlichen Sängern – oder vielleicht besser Stimmkünstlern. Unterwegs heisst: im Auto zwecks jährlichem Veterinärservice, beide in separaten Boxen auf dem Rücksitz und beide natürlich im Zustand höchster Aufregung. Auch nach zehn Jahren Fahrdienst als domestizierter Katzenhalter über dieselbe Strecke und dieselbe zeitliche Dauer erlebe ich dieselbe Aufführung: Der protzige Kater wird von der imposanten Kampfmaschine erstaunlicherweise stimmlich zum verängstigt mauzenden Kätzchen und seine sonst so diskrete Schwester zur wütend plärrenden Furie, deren menschenähnliche Babylaute jeden Jugendschutzbeamten veranlassen könnten, mich auf der Stelle wegen Kindsmisshandlung zu verhaften.

Doch ich bin jeweils der einzige Zuhörer und es ist exakt diese wiederkehrende Szene, an die ich mich beim Begriff Katzenmusik mit Schaudern erinnere. Diese kühnen Tonsetzungen fügen meinem Gehör mehr Schmerzen zu als es die Katzenkrallen an meinen Unterarmen vermögen, wenn sich die Geschwister gegen den Verlad in die Transportboxen sperren. Übrigens auch bei dieser Aktion: der dicke Buffo deutlich weniger hysterisch als die sonst so coole Stylistin.
Weil ich – jeweils Stunden vor dem Tierarztbesuch – nicht weniger aufgeregt bin als die Tiere und schon beim Verschliessen der Katzenklappe, dem Tor zur Freiheit, zitternde Hände bekomme, habe ich eine Vermutung nie wirklich empirisch bestätigen können: Ich bin nämlich überzeugt, dass die Katzen während der gesamten Fahrt, zuerst um ein paar Haarnadelkurven in steilem Gelände, dann durch ein kleines Waldstück, welches an das Dorf angrenzt, in dem sich die Tierarztpraxis befindet, jedes Jahr exakt das gleiche Lied singen. Jeder Laut im felinen Koloratursopran des Weibchens und jede leise klagende Slam-Poetry-Strophe des Katers wird immer am selben Punkt der Strecke gegeben! Kein zufälliger Jam geht hier ab, sondern ein durchkomponiertes, sozusagen GPS-gebundenes Chorwerk!

Um dies schlüssig zu beweisen, werde ich vor dem nächsten Veterinärtermin ein Valium schlucken und mit wissenschaftlicher Gelassenheit Aufnahmegerät und Kamera im Auto installieren. So wird es mir gelingen, den stringenten Zusammenhang von Ort, Bewegung, Gelände und Katzengesang zu beweisen. Mit dieser einmaligen Aufzeichnung werden weitere Experimente möglich. Nach dem Vorbild der berühmten Aufnahmen von Walgesängen, die, mit mehrfacher Geschwindigkeit abgespielt, dem Gezwitscher von Singvögeln gleichen, werde ich meine Carnivocals zwar nicht schneller, dafür aber von hinten nach vorne abspielen. Dies weil ich überzeugt bin, dass meine Katzen ihre Gesänge Note um Note von hinten nach vorne dem Rückweg vom Viehdoktor nach Hause anpassen.

Ist die variantenreiche Lauterzeugung der reisenden (transportierten) Hauskatze möglicherweise ebenso komplex wie beispielsweise beim Rotkehlchen? Und verbessert sich die Stimmlage bei meinem Buffo, wenn er ein Rotkehlchen frisst? Sollte ich in diesem Fachbereich zu gültigen wissenschaftlichen Ergebnissen kommen, wird wohl der Begriff Katzenmusik endgültig mit meinem Namen verbunden sein. So wie die unglückliche Hündin Laika mit ihrem Nachfolger Juri Gagarin, der magische Tigerbiss mit Siegfried und Roy oder die mafiösen Katerpraktiken mit Elke Heidenreich.

2017