Viktor Giacobbo

, 7. Mai 2013, von Martin Ebel

«Schweizer sind Deutsche»

Viktor Giacobbo glaubt, die beiden Nachbarn hätten deshalb ein schwieriges Verhältnis zueinander, weil sie sich so ähnlich sind. Sein satirischer Dokumentarfilm holt nun den grossen Kanton heim.

Deutschland tritt der Schweiz bei, das ist die Idee des Films. Nehmen wir sie mal kurz ernst. Ein Wunsch- oder ein Angsttraum für Sie?

Es ist eine absurde Idee, die mich zum Denken gebracht hat und mit der ich meine Gesprächspartner zum lockeren Spintisieren bringen wollte. Es ist ein Gedankenspiel, das anregen will, nicht irgendetwas lösen. Der Film will unterhalten, ohne dass man sein Hirn abschalten muss. Allerdings muss man zuhören wollen.

Zwischen Deutschland und der Schweiz gibt es zwei Dauerbrenner: Fluglärm und Steuern. Beim Fluglärm ist es einfach: Jeder will ihn zum Nachbarn schieben. Im Steuerstreit gibt es Verteidiger des Bankgeheimnisses und Transparenz-Fans, Käufer von Daten-CDs und andere, die das für Hehlerei halten. Ihre Position?

Klar, der Kauf von CDs mit Steuerdaten ist Hehlerei. Aber die Schweiz war auch jahrzehntelang Hehler für deutsche Steuerbetrüger. Ich bin für Transparenz, und ich verstehe auch, dass die Staaten heute mit ihren hohen Schulden ein Interesse daran haben, Steuergelder mit allen Mitteln einzutreiben. Ich verstehe dagegen nicht, dass sich die Schweiz Scheibe für Scheibe abschneiden lässt, statt ein für allemal aufzuräumen. Mittlerweile sind die Banker grössere Realisten als die bürgerlichen Politiker.

Jetzt gibt es den Fall Uli Hoeness, und wenn man die Diskussion verfolgt, kann man den Eindruck gewinnen, Steuerhinterziehung sei mindestens so schlimm wie Kindsmissbrauch. Verstehen Sie das?

Hoeness muss für das geradestehen, was er getan hat, that’s it. Er ist aber auch eine Lichtgestalt, alle haben seine Nähe gesucht. Wenn so einer fällt, ist das Geschrei grösser als bei irgendeinem Industriellen. In Deutschland ist, wenn es um das angebliche Fehlverhalten eines Grossen geht, die Hysterie immer besonders gross. Denken Sie an die Affäre Wulff, wo es jetzt nur noch um ein paar Hundert Euro geht. In Deutschland tobt sich die entfesselte Korrektheit aus, masslos und auch etwas kleinkariert.

Ist das deutscher Perfektionismus, der wieder einmal von einem Extrem ins andere fällt?

Genau den Eindruck habe ich. In Deutschland kommt es schnell zu einer Medienhysterie. Aber wir Schweizer kochen da auch gern mit.

Die Schweiz hat sich in Steuerfragen gegenüber Deutschland widerspenstiger verhalten als gegenüber den USA. Bei den Amerikanern ist man eingeknickt und hat Namen geliefert, selbst gegen eigene Gesetze. Kann man mit den Deutschen anders umspringen, weil die es nicht zum Äussersten kommen lassen, wegen ihrer Vergangenheit?

Was haben die USA gemacht? Sie haben den Ratschlag von Peer Steinbrück umgesetzt. Sie haben nicht nur mit der Kavallerie gedroht, sondern sie eingesetzt. Steinbrück hat recht bekommen: Die Schweiz hat vor der Kavallerie kapituliert oder wenigstens vor den Marines.

Apropos: Steinbrück hätte sich im Film gut gemacht. Warum fehlt er?

Wir haben ihn angefragt, aber eine höfliche Absage von seinem Büro bekommen. Mir gefällt der Steinbrück eigentlich. Er ist kompetent, unterhaltend und spielt mit offenen Karten. Ich habe damals die Aufregung um seinen Spruch mit Peitsche und Kavallerie nicht verstanden. Da haben sich die Schweizer wie Jammerlappen verhalten. Wir reden immer über unsere Eigenständigkeit – aber was für eine Freude haben wir erst, wenn uns jemand im Ausland lobt! Umgekehrt, wenn wir kritisiert werden, sind wir so was von wehleidig.

Bekommt die Schweiz jetzt den Ruf eines Schurkenstaates, weil sie so viel Schwarzgeld versteckt – von Deutschen, von griechischen Reedern, von Diktatoren? Das wäre dann eine neue moralische Schieflage zwischen Deutschland und der Schweiz.

Was Diktatorengelder angeht, waren wir lange tatsächlich ein Schurkenstaat. Das hat sich geändert, heute gehören unsere Kontrollen, wie mir Banker glaubhaft versichert haben, zu den schärfsten der Welt. Aber das Image wird uns noch eine Weile anhaften. In neuen amerikanischen Serien hat der Bösewicht immer noch ein Konto in Genf.

Es wird oft behauptet, die Schweizer hätten einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Deutschen. Aus Ihrer Filmidee spricht eher das Gegenteil: Schweizer können alles besser, deshalb nehmen wir Deutschland auf und lösen seine Probleme.

Wir haben beides, Minderwertigkeitsgefühl und bockigen Nationalstolz. Im Verhältnis zu Deutschland kommt noch etwas Spezielles hinzu, weil wir ja lang zum Deutschen Reich gehört haben und eigentlich eine Abspaltung sind – und diese Abspaltung ist nicht so lang her, wie viele meinen, und sie war auch nicht so heroisch, wie viele meinen.

Was kriegt Deutschland besser hin, was die Schweiz? Was könnte der eine vom anderen übernehmen?

Mir gefällt die Klarheit in der Auseinandersetzung. Ich halte unsere Konkordanzdemokratie für ein Auslaufmodell. Politische Gegner sind zur Zusammenarbeit in einer Kollegialbehörde verdammt, und man merkt immer mehr, dass das nicht klappt. In einer parlamentarischen Demokratie wie in Deutschland kann der Wähler entscheiden, ob er die Regierung behalten oder abwählen will. Wenn wir das übernähmen, hiesse das nicht, dass wir die direkte Demokratie aufgeben müssten. Es könnte weiter Referenden und Initiativen geben. So hätten wir vom deutschen und vom Schweizer System jeweils das Beste.

Es gibt ein paar Klassiker, wenn man über Mentalitätsunterschiede redet: Das Tempo, die Konfliktfähigkeit. Haben Sie einen Favoriten beim deutschen Wesen?

Die Konfliktfähigkeit. Die ist auch für Satiriker wichtig. Je klarer die politischen Gegensätze, desto besser greift die Satire. Was das Tempo angeht: Wir Schweizer brauchen manchmal länger, bis wir etwas per Volksabstimmung beschliessen, aber der Beschluss wird dann zügig umgesetzt. Volksferne Projekte wie Stuttgart 21 sind bei uns schwer vorstellbar.

In einer immer vernetzteren Welt vertrauen Schweizer Politiker gern auf die eigene Stärke.

Die Vorstellung, allein käme man am besten zurecht, ist rührend. Das zeigt schon die Immigration: Davon hat die Schweiz immer profitiert, sie hat zum Wohlstand beigetragen. Ich finde die Schweizer übrigens nicht nationalistischer als andere Nationen, aber unsere besondere Spielart geht mir natürlich mehr auf den Keks, weil ich hier lebe. Der Kult um die Neutralität – als ob wir die erfunden hätten! Dabei ist sie uns vom Ausland aufgezwungen worden.

Sprechen wir über die Deutschen in der Schweiz. Sind es zu viele? Nehmen sie den Schweizern wirklich die Frauen, die Jobs und die Parkplätze weg?

Bei den Parkplätzen kommen wir uns schon deshalb nicht in die Quere, weil wir parkieren und die Deutschen parken. Aber im Ernst: Ich habe die Deutschen gern. Sie bringen einen anderen Rhythmus ins Leben, bringen neue Elemente ins Land. Mich interessiert doch bei jedem nur: Macht er seine Arbeit gut? Ist er freundlich zu mir? Und als Chef kannst du ein deutsches Arschloch oder ein Schweizer Arschloch haben.

Warum gelingt es, alle drei Jahre eine Mediendebatte anzuzetteln, dass es zu viele Deutsche gibt?

Diese Debatten spielen sich innerhalb der Medien ab. Mit solchen Themen kann man Emotionen wecken, jeder kann mitreden, und man spielt schneller mit niedersten Instinkten, vor allem in den Onlinekommentaren – von denen ich denke, dass die sogenannte Qualitätspresse sie abstellen sollte.

Es gibt ein neues Modewort: Zuwanderungsstress.

Ein schönes Wort . . . Wobei nicht klar ist, wer den Stress hat: die Zugewanderten oder die Einheimischen. Ich fühle mich nicht gestresst, solange es sich nicht gerade um Verbrecherbanden handelt.

Haben es Deutsche und Schweizer so schwer miteinander, weil sie sich so ähnlich sind?

Ja. Wir sind uns grundsätzlich ähnlich – arbeitseifrig, ordentlich, leicht spiessig. Die Unterschiede sind Alltagsfolklore.

Sind die Schweizer die besseren Deutschen?

(lacht) Schweizer sind Deutsche.


«Der grosse Kanton»

Was wäre, wenn?

Nach der Schlacht von Marignano 1515 haben die Schweizer allen Grossmachts-ehrgeiz begraben. Sie beschlossen, ein «putziges Bergvolk» zu werden, wie Elke Heidenreich es nennt. Aber das Träumen vom Zugang zum Meer wird wohl noch erlaubt sein. Insbesondere mit den Deutschen, die uns unsere Putzigkeit unter die Nase reiben, haben die Deutschschweizer, die sich gern mit der ganzen Schweiz verwechseln, ja ihre Selbstbewusstseinsprobleme.

Und deshalb hat Viktor Giacobbo für seinen Film «Der grosse Kanton» darüber nachgedacht und etliche deutsche und Schweizer Prominenz darüber nachdenken lassen, wie das wäre, wenn Deutschland in seiner Gesamtheit (und womöglich auch die habsburgischen Erblande) ein Kanton der Schweiz würde, ständisch gleichberechtigt mit den beiden Appenzell. Gewissermassen: damit die dort drüben auch einmal von ihrem hohen Rössli herunterkommen.

Es ist eine sehr ironisch grundierte Unternehmung aus dem Geiste jener leisen Kränkung, die daher rührt, dass diese Schwaben dem Franken immer Fränkli sagen. Die Idee von der Einschweizerung Deutschlands gewinnt an Plausibilität durch den seriösen sittlichen Unernst. Am vergnüglichsten ist der Film dort, wo die, die Giacobbo zum lauten Denken provoziert, auf der Höhe des humoristischen Gedankens sind und die Unseriosität einmal konsequent ernst nehmen. Manche können das.

Joschka Fischer kann es in seinem natürlichen Vonobenherab; er ist ganz bei sich, wenn er den Schweizern erklärt, wie sie am Volksstamm der Bayern zerschellen werden. Peter von Matt kann es besonders gut; die Lakonik seiner detailfreudigen Ironie streift die Hochkomik. Manchen aber war die Humorlosigkeit, mit der sie Spass verstehen, einfach nicht auszutreiben. Die sorgen dann für einen rechten Überdruss an der ohnehin zur Monotonie neigenden Dramaturgie der sprechenden Köpfe. (csr)

Der grosse Kanton (CH 2013). 85 Minuten. Regie: Viktor Giacobbo. Mit Joschka Fischer, Doris Leuthard, Philipp Müller, Gerhard Polt, Peter von Matt u. a.

«Der grosse Kanton» läuft ab Donnerstag im Lunchkino im Le Paris.

2017