Viktor Giacobbo

, 6. Februar 2012, von Helmut Dworschak

Herr Giacobbo, wer sind Sie eigentlich?

Heute wird Viktor Giacobbo sechzig. Und noch immer ist vollkommen unklar, wer dieser Mann eigentlich ist.Lieber rede er über Themen, die ihn wenigstens ein bisschen interessieren, sagte er kürzlich in einem Interview auf die Frage, weshalb er selten über sich Auskunft gebe. Befragen wir deshalb Viktor Giacobbos Musik- und Literaturgeschmack. Der lässt sich anhand der «CD-Playlist» und der Bücherliste auf seiner Website ermitteln.

Beginnen wir mit den Büchern. Giacobbo mag es voluminös, er ist folglich ein ausdauernder Leser. Ganz zuoberst steht «2666» des chilenischen Autors Roberto Bolaño. Der über tausend Seiten starke, erst posthum erschienene Roman setzt mit einer Mordserie ein, die sich an der mexikanisch-amerikanischen Grenze ereignet und dann immer weitere Kreise zieht, um schliesslich ein rabenschwarzes Bild des 20. Jahrhunderts zu zeichnen.

Aufs Ganze geht auch Haruki Murakami in seiner Romanserie «1Q84», die inzwischen bei «Buch 3» angelangt ist. Ähnlich wie Bolaño schickt sich der japanische Autor an, den inneren Kern der Gesellschaft zu ergründen, dabei stösst er auf ein dunkles Konglomerat aus geheimen Machtzentren, skrupel- loser Gewalt und fixen Ideen.

Daraus schliessen wir messerscharf: Wie weiland Faust möchte Giacobbo wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die faustische Frage trieb auch Friedrich Dürrenmatt um, der im Verbrechen eine zentrale Antriebskraft vermutete; die umfangreiche Dürrenmatt-Biografie von Peter Rüedi («Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen») steht ebenfalls auf der Liste.

Dicke Post ist das, die man nicht so einfach aus der Hand legt mit dem beruhigenden Gedanken: «Es kommt schon gut.» Eher wird man zum Denken angeregt. Ganz besonders ist das bei Philip Roth der Fall. Von ihm hat Giacobbo «Nemesis» auf der Liste, ein Werk von archaischer Kraft, das Sigmund Freuds Einsicht bestätigt, dass das Glück von der Natur nicht vorgesehen sei. Unterhaltsamer, wobei man seinen Tiefgang nicht unterschätzen sollte, ist der Wiener Schriftsteller Wolf Haas («Auferstehung der Toten»).

Ein Intellektueller

Um die Übersicht zu erleichtern, blenden wir nun das Zwischenergebnis ein. Es mag all jene überraschen, die in Viktor Giacobbo vor allem einen harmlosen Spassmacher sehen: In ihm steckt ein intellektueller Mensch, der sich fürs grosse Ganze interessiert.

Auch in der Musik schätzt Giacobbo Dinge mit geschärftem Profil. Seine Liste umfasst ausschliesslich Rock, mit Ausfahrten in Richtung Folk (zum Beispiel Emmylou Harris) und Country («The Lost Notebooks of Hank Williams»). Fast ganz oben steht zweimal Jack White, zum einen mit den (inzwischen aufgelösten) White Stripes, zum andern mit der genialischen Band The Dead Weather; von den Ersteren das überragende «De Stijl», ein Album voll roher und ergreifender Musik.

Für eine würzig-männliche Note sorgt der unvermeidliche Aufbruch ohne Rückkehr, der in keinem guten Western fehlen darf und etwa von den Avett Brothers im feinen Folk-Album «I and Love and You» vorgetragen wird: «Load? the car and write the note / Grab your bag and grab your coat / Tell the ones that need to know / We are headed north …» beginnt der Titelsong. Auf der Liste ferner die dunkel-euphorischen Kanadier Arcade Fire («The Suburbs»), die Country-Rocker Wilco («The Whole Love») und die vielseitigen Cake aus Kalifornien («Showroom of Compassion»).

Giacobbo schätzt in der Musik edlere Fabrikate der höheren Preisklasse, die sich schon etwas bewährt haben, er ist aber durchaus bereit, Jüngeren eine Chance zu geben – solange sie aus Übersee stammen wie Manchester Orchestra aus Atlanta («Simple Math») und Okkervil River aus Austin, Texas («Im Am Very Far») – oder zumindest eine Verbindung dahin nachweisen können wie das schwedische Folk-Duo First Aid Kit («The Lion’s Roar»), das sage und schreibe auf Platz eins rangiert: zwei blutjunge Sängerinnen um die zwanzig, die mit einem Coversong der Fleet Foxes bekannt wurden.

Ein Zug ins Weite

Hinweise auf heimatgeschützte Produkte aus Switzerland, wie sie Fernsehprominente gerne geben, sucht man vergebens, auch finden sich keine Liedermacher, Panflöten und Streichquartette, ja nicht einmal Britpop. Erdverbunden muss es sein statt kopflastig, rockig im weitesten Sinn, einen Zug ins Weite soll es haben – der ferne Horizont leistet hier dasselbe wie bei den dicken Büchern der Tiefgang: Das Ende darf so schnell nicht abzusehen sein.

Zum Interesse an der Welt als Ganzes, soweit sie in Form von Geschichten präsentiert wird, treten somit die in der amerikanischen Musik gegenwärtigen Mythen; zur Freude am Auffinden verborgener Zusammenhänge tritt der Wunsch, aufzubrechen und alte Illu­sionen hinter sich zu lassen.

Was ist das also für ein Mensch? Wir vermuten, ein neugieriger, unternehmerischer Geist – er wird heute, das erwähnten wir bereits, sechzig Jahre alt. Herzliche Gratulation.

2017