Viktor Giacobbo

Südkurier, 17. Juli 2014, von Tilmann P. Gangloff

Endlich Zugang zum Meer

Wenn Deutschland Teil der Schweiz wäre: Regisseur Viktor Giacobbo hat mit „Der große Kanton“ einen Film mit Unterhaltungswert gemacht

Die Idee ist charmant, zumindest aus Schweizer Sicht: Würde es gelingen, Deutschland einzugemeinden, wären auf einen Schlag ganz viele Probleme gelöst. Möglicherweise würden sich ein paar neue ergeben, aber das vor allem für die Deutschen; die hätten im Kantonsverbund fortan nicht mehr zu sagen als etwa Appenzell.

Natürlich ist das nicht ernst gemeint, aber alle spielen mit: Dokumentarfilmer Viktor Giacobbo hat Menschen aus den Bereichen Politik und Kultur mit dieser Utopie konfrontiert, und jeder trägt seinen Teil dazu bei. Der Schweizer nennt seinen Filmstil eine „dokumentarische Konversation“, und daher besteht das Werk größtenteils aus Interviews. Trotzdem ist „Der große Kanton“ überraschend witzig und entsprechend unterhaltsam, weil viele der Gesprächspartner fröhlichen Unfug verzapfen, ohne eine Miene zu verziehen. Joschka Fischer dreht am ganz großen historischen Rad, Gregor Gysi träumt dank schweizerischer Vorfahren vom dritten politischen Frühling, Frank-Walter Steinmeier fragt sich sorgenvoll, was dann aus den ganzen Steuerfahndern wird, und der Schwabe Cem Özdemir schließt kurzerhand den zukünftigen Regionalflughafen Zürich und erklärt Baden-Württemberg, „wo die Intelligenz sitzt“, zum Kraftfeld des neuen Staatenbunds. Allerdings fürchtet er auch, dass diverse Provinzen umgehend von der Fahne gehen könnten; allen voran die Bayern, die sich mit Südtirol zusammenschließen würden. Nicht minder originell sind die (untertitelten) Schweizer Wortbeiträge, die vor allem mit dem Vorurteil aufräumen, dem Bergvolk mangele es an Selbstironie; und das bezieht sich keineswegs nur auf die Freude darüber, dank des großen Kantons im Norden endlich direkten Zugang zum Meer zu haben.

Natürlich gibt es nebenbei einen Abriss der gemeinsamen deutsch-schweizerischen Geschichte, und selbstredend kommen auch kommunale Vertreter zu Wort, etwa Horst Frank, ehemaliger Konstanzer Oberbürgermeister, oder Thomas Dörflinger, Bundestagsabgeordneter aus Waldshut-Tiengen. Die Improvisationen von Gerhard Polt sind allerdings ungleich witziger, auch wenn sich ein Vergleich verbietet. Aus der Lombardei kommt ein weiterer Vorschlag: Die norditalienische Provinz möchte ebenfalls mit ins Boot, würde der Schweiz daher pro forma den Krieg erklären und sich unmittelbar daraufhin ergeben.

Giacobbo würzt die verschiedenen Ausführungen immer wieder mit amüsanten Spielfilmausschnitten, die selbstredend kommentierende Funktion haben; auch die Musikauswahl treibt den satirischen Ansatz regelmäßig auf die Spitze. Aus dem Rahmen fallen allein die nicht immer treffsicheren kabarettistischen Einlagen. Sie orientieren sich am satirischen Wochenrückblick „Giacobbo/Müller“, den Giacobbo gemeinsam mit Mike Müller für das Schweizer Fernsehen veranstaltet. Davon abgesehen ist „Der große Kanton“ einer der originellsten Dokumentarfilme seit Langem.

2017