Viktor Giacobbo

, 20. August 2020, von Kian Ramezani

„Alle können mit einem Klick Scharfrichter sein“

«Cancel Culture» nennt sich die moralisch begründete öffentliche Ächtung von Personen und Institutionen. Komiker Viktor Giacobbo wünscht sich statt der gnadenlosen Verurteilung wieder mehr Streitkultur in den sozialen Medien.

Viktor Giacobbo, können Sie uns «Cancel Culture» erklären? Man hört und liest den Begriff derzeit überall.

Zunächst einmal ist es ein Modebegriff. Er bezeichnet die allgemeine Empörung über das angebliche Fehlverhalten einer Person, die im äussersten Fall dazu führt, dass diese zum Beispiel ihren Job verliert. Oder gegen eine Institution, die dann boykottiert wird. Es handelt sich um einen hochmoralisierten Mechanismus, der sich vor allem in den sozialen Medien abspielt, die ja nicht umsonst auch hysterische Medien genannt werden. Cancel Culture ist der Preis für die Demokratisierung gesellschaftlicher Debatten.

Inwiefern?

Früher waren solche Debatten den Experten, Feuilletonisten und Kommentatoren vorbehalten. Heute können dank sozialer Medien alle mitmachen, was ja auch gut so ist. Aber: Nur weil sich dort eine Person oder auch eine Gruppe über etwas empört, heisst das noch lange nicht, dass sie recht hat. Ich habe allerdings das Gefühl, dass die Cancel Culture selber zurzeit gecancelt wird.

Auch Sie wurden unlängst auf Twitter für Ihre satirische Rajiv-Figur kritisiert und mussten sich in den Medien erklären.

Cancel Culture gilt eigentlich als ein Werkzeug der Linken, interessanterweise kam die Kritik an Rajiv aber aus der rechten Ecke. Für meine politischen Intimfeinde aus der SVP war das natürlich ein gefundenes Fressen: Seht her, auch der Giacobbo hat sich einmal das Gesicht braun angemalt und sich über Minderheiten lustig gemacht.

Haben Sie das?

Bei Rajiv hat die Hautfarbe nie eine Rolle gespielt, sondern der indische Akzent. Ausserdem war er zwar etwas ordinär, aber immer der Gewinner. Ich entschuldige mich nicht für meine Figuren, die alle der jeweiligen Zeit entspringen. Ich spiele einzelne nicht mehr, das betrifft aber nicht nur Rajiv, sondern zum Beispiel auch Donatella oder Ueli Maurer. Und das sicher nicht aus Gründen der Hautfarbe, sondern weil diese satirischen Rollen für mich nicht aktuell sind. Vielleicht werden sie das wieder einmal, und dann hole ich sie hervor. Selten spiele ich live noch den Junkie Fredi Hinz. Oder den primitiven (und stets gut gebräunten) Autofan Harry Hasler, etwa wenn Peter Spuhler bei Stadler Rail einen neuen Zug präsentiert. Dort entsteht die nötige Fallhöhe der satirischen Komik.

Gerade wurde bekannt, dass Facebook künftig Inhalte mit «Blackfacing» blockieren wird. Da würde wohl auch Rajiv durchfallen.

Facebook sollte besser dafür sorgen, dass es rassistische Seiten und Posts sperrt. Der ursprüngliche Begriff Blackfacing hat mit Europa und der Schweiz wenig zu tun. Früher durften Afroamerikaner in den USA nicht in Bühnenshows auftreten. Schwarze Figuren mussten dann von geschminkten Weissen gespielt werden. Die rassistische Diskriminierung ist die Ungerechtigkeit – das Blackfacing der weissen Schauspieler war nur eine Folge davon.

Gedeiht Cancel Culture vielleicht auch in einem gesellschaftlichen Klima, das viele als unentspannt empfinden?

Ich denke schon. Die sozialen Medien sind voller Opfer, voller moralischer Anklagen. Alle können mal kurz mit einem Klick Scharfrichter sein. Ich stelle das auch in meiner eigenen Branche fest, die in letzter Zeit zum wortreichen, reflexartigen Moralisieren neigt, statt politisch-satirisch auszuteilen.

Ist die konstante Aufregung ein guter Nährboden für Satire?

Für Satire gibt es nur gute Zeiten. Komik lässt sich nicht bändigen und hat etwas zutiefst Anarchisches. Auch die grössten Moralisten werden manchmal davon überwältigt. Oder wie es der deutsche Schriftsteller Robert Gernhardt ausdrückte: Es gibt ebensowenig ein niveauvolles Lachen, wie es einen niveauvollen Orgasmus gibt. Hinzu kommt, dass niemand ein Recht hat, von Satire verschont zu bleiben. Auch moralisch noch so berechtigte Bewegungen zeitigen Auswüchse, denen man nur mit einem satirischen Joke beikommt. Auch Greta Thunberg, die ich toll finde, ist davon nicht ausgenommen.

Ihre satirischen Twitter-Posts werden von SVP-Vertretern stets hämisch kommentiert. Ist das auch Humor – oder ernst gemeint?

Teilweise ist es satirisch gemeint, manchmal hilflos missverstanden oder unfreiwillig lustig. Aber witzige Antworten like ich. Auf Twitter findet manchmal immer noch eine Debatte statt, die über den eigenen Bubble-Rand hinausgeführt wird. Zum Beispiel haben Christoph Mörgeli und ich uns noch nicht gegenseitig blockiert. Wir zoffen uns, aber wir canceln nicht. Da ist ein Rest politischer Kultur, auch wenn es inhaltlich keinerlei Übereinstimmungen gibt.

Sie können Cancel Culture nicht viel Gutes abgewinnen.

Auch wenn das von mir altem Mann etwas klischiert tönt: Ich habe volles Verständnis für die bewegte Jugend. Sie hat ein Anrecht auf Empörung, und manchmal gerät sie halt etwas ausser Kontrolle. Ich ging damals als Teenager an eine Veranstaltung von James Schwarzenbach (Begründer der 1970 abgelehnten Überfremdungs-Initiative, Anmerkung der Redaktion) und störte seine Rede mit «Heil Hitler»-Rufen. Das finde ich rückblickend ziemlich einfältig. Er war fremdenfeindlich, aber kein Nazi. Man sollte auch in der Empörung noch in der Lage sein zu differenzieren. Cancel Culture ist Teil einer Bewegung gegen den strukturellen Rassismus, die sehr gut und nötig ist. Aber diese gnadenlose Verurteilung, wenn jemand einmal etwas Falsches sagt, die wird hoffentlich wieder einer spannenden Streitkultur weichen.

2017