Viktor Giacobbo

Viktor Giacobbo über die prominenten Darsteller in seinem neuen Film, Einschaltquoten und Partner Mike Müller

Im Foyer des Casinotheaters Winterthur herrscht tagsüber eine stilvolle Leere. Viktor Giacobbo kommt herein – und die Stimmung hellt sich auf. Kaffee wird gebracht, der künstlerische Leiter Nik Leuenberger schneit herein. Kaum vorstellbar, welch grossspurige Annektionspläne der freundliche Theaterpatron Giacobbo in seinem neuen Film wälzt: Deutschland soll ein Teil der Schweiz werden.

Viktor, sind Sie ein Imperialist?

Nein. Ich fordere ja in meinem Film nicht wirklich, dass wir Deutschland annektieren. Ich schlage nur vor, dass wir eine Massnahme prüfen, die viele Probleme lösen könnte.

Würde der Anschluss von Deutschland an die Schweiz tatsächlich Probleme lösen?

Nicht wirklich. Aber der Film soll ja eher unterhalten als Probleme lösen. Am Anfang geht man bewusst naiv an die Sache heran, hat eine tolle Idee . . .

. . . eine absurde Idee . . .

Ja, natürlich ist die Idee absurd. Doch sie hat meine Gesprächspartner – und es sind nicht die unbedeutendsten auf dem politischen Parkett – dazu animiert, darüber nachzudenken. Womit mein Ziel erreicht wäre.

Bundesrätin Leuthard etwa sagt, mit dieser Massnahme könnte man den Deutschen unter die Arme greifen. War es schwierig, sie zum Mitmachen zu überreden?

Nein, überhaupt nicht. Das Gespräch war sehr entspannt. Sie wirkt im Film magistral, aber mit einem leisen ironischen Touch.

Hatte sie keine Angst, dass sie vorgeführt wird?

Nein, sie wollte – wie alle anderen Politiker im Film auch – nicht einmal eine Schlusskontrolle. Ich wollte die Gesprächspartner nicht verarschen, sondern sie zu spontanen Akteuren des Films machen.

Michael Moore hätte das Material boshafter geschnitten.

Vielleicht. Dummerweise bin ich nicht Michael Moore. Das wäre ein anderes Konzept gewesen. Ich wollte eine gewisse gelassene Ernsthaftigkeit drin haben.

Für Gaudi sorgen im Film die aus «Giacobbo/Müller» bekannten Figuren wie Donatella Versace oder Dr. Klöti. Recycling oder neu aufgenommen?

Donatella, die sich für die Lombardei starkmacht, und ein Frank-A.-Meyer-Sketch sind neu. Die anderen haben wir wiederverwendet – allerdings sind das nur Sequenzen von wenigen Sekunden.

Auch die Szene, wo Sie sich als Hitler im Tessin verbunkern?

Ja, das ist eine ganz alte Nummer. Das war noch vor Bruno Ganz.

Waren Sie also der erste Schweizer Hitler?

Höchstwahrscheinlich – ist ja auch egal. Damals brachte der inzwischen verstorbene deutsche Regisseur Christoph Schlingensief zum Entsetzen der Presse ein Stück mit Neonazis auf die Schauspielhaus-Bühne, angeblich, um die Jungs zu therapieren. Da machten wir einen Sketch, in dem Birgit Steinegger Carla Del Ponte war und ich Hitler. Zu Therapiezwecken führten wir gemeinsam einen Dialog aus Shakespeares «Romeo und Julia» auf.

Bissig ist im Film Mike Müllers Karikatur der grauen Eminenz Frank A. Meyer. Eine Korrektur, weil der «Blick»-Verleger Ringier so sympathisch rüberkommt?

Michael Ringier kommt gut rüber, weil er ein humorvoller Mensch ist. Bei uns in der Sendung hatte er mal – mit einem Knopf im Ohr – so getan, als ob ihm Frank A. Meyer die Antworten einflüstern würde. Wenn jemand so selbstironisch ist, kommt er halt sympathisch rüber. Im Film und in der Sendung.

Egal aus welchem politischen Lager er kommt?

Egal! Ob es der SVP-Politiker Toni Brunner ist oder die Grüne Aline Trede wie vor einer Woche – wer über sich selbst lachen kann, macht in einem satirischen Talk das einzig Richtige.

Darum staunen junge Menschen manchmal, dass Ihre Gäste echte Politiker seien?

Es ist tatsächlich so, dass unsere jungen Fans durch das Interesse an der Show auch Interesse für Politik, fürs Zeitgeschehen entwickeln. Erst kürzlich hat mir ein junges Mädchen erzählt, dass es unseretwegen angefangen habe, Zeitungen zu lesen. Das hat mich sehr gefreut.

Sicher nicht traurig waren Sie auch, als Sie erfahren haben, dass die Zuschauerquote von «Giacobbo/Müller» um 150 000 besser ist als bisher angenommen?

Das haben wir eh schon gewusst. Als die Presse schrieb, dass unsere Quote auf 30 Prozent gefallen sei, blieben wir locker. Erstens ist es im internationalen Vergleich für eine satirische Spätsendung sehr viel – ähnliche Shows im Ausland bewegen sich um die 10 Prozent –, und zweitens wussten wir, dass viele unsere Sendung als Podcast runterladen, was sich mit den neuen Zahlen bestätigt hat.

Wie stark beziehen Sie die Erwartungen des Publikums in die Gestaltung Ihres Programms mit ein?

Wir machen nie etwas, nur um dem Publikum zu gefallen. Im Gegenteil. Es gefallen uns nun mal Figuren, die nicht bei allen ankommen.

Welche zum Beispiel?

Boppeler und Stark etwa. Eine Minderheit findet die beiden super. Der Rest – darunter viele Frauen – findet sie grauenhaft. Aber wir mögen die beiden, und darum bleiben sie im Programm.

Nehmen Sie sich vor, wie dicht die Pointen aufeinanderfolgen sollen?

Das ist auch so ein Missverständnis. Wir sind keine Pointenshow. Wir kommentieren.

Oder machen Witze über Mikes Gewicht und Ihr Alter. Ein rettender Running Gag?

Es ergibt sich oft ganz natürlich. (lacht) Das ist allerdings etwas, was die Zuschauer echt lieben. Wenn man persönlich wird. Aber auch hier gibt es diejenigen, die uns auffordern, jetzt mal mit diesen Jokes aufzuhören. Und genau deshalb machen wir damit weiter.

Auf Kritik in der Presse antworten Sie gern mal mit einem bissigen Tweet.

Ja, ich finde Twitter ein tolles Medium. Interessiert mich viel mehr als Facebook. Kurz und inhaltsreich.

Fürchten Sie nicht, im Affekt etwas zu schreiben, was Sie nachher bereuen, wie das einigen Prominenten passiert ist?

Bereut habe ich noch keinen Tweet – auch wenn ich einige als weniger gelungen empfinde. Auf Twitter lässt sich entspannt streiten – auch mit Journalisten. Und natürlich mit meinen Followern.

«Bin aufgeflogen! AZ hat mein Netzwerk aufgedeckt!», twitterten Sie ironisch als Antwort auf die Kritik der «Aargauer Zeitung», dass «Giacobbo/Müller» aus dem Circus Knie sendet.

In diesem strunzdummen Artikel wurde wieder mal das Mafiaklischee herangewürgt, weil ich 2006 im Circus Knie gastierte und 2013 eine Sendung im Knie machte – so what? Die wenigen Journalisten, die da recherchieren, finden schnell heraus, dass ich keinen einzigen Künstler unter Vertrag habe und dass das Casinotheater mit Not und Mühe eine schwarze Null schreibt, weil es auch viel Nachwuchsförderung macht. Wir werden dieses Jahr sogar einen Verlust bekannt geben müssen.

Unabhängig vom Verdacht einer persönlichen Bereicherung – Sie sind schon eine der einflussreichsten Persönlichkeiten im Schweizer Showbusiness.

Natürlich, wenn man es so lange macht wie ich, dann kennt man alle. Deshalb haben wir das Casinotheater ja auch ins Leben gerufen, damit Künstler hier auftreten können und sich wohlfühlen.

Übrigens, was macht Claudio Zuccolini beim Knie falsch?

Als Stand-up-Komiker hat Claudio am Anfang wohl die spezielle Zirkussituation nicht richtig eingeschätzt. Aber er hat reagiert, seine Auftritte umgebaut, und die kommen seither beim Publikum gut an. Und genau darüber könnte die Presse zur Abwechslung jetzt schreiben . . .

Gibt es Regeln für Humor?

Objektive Regeln nicht, denn Humor ist Geschmackssache, sowohl für den Künstler als auch fürs Publikum. Es ist dann der Geschmack des Künstlers, der die Komik ausmacht. Und natürlich hofft er, dass das Publikum seinen Geschmack teilt. Und dann funktioniert es.

Die deutschen Brachialkomiker wie Mario Barth, die ganze Stadien füllen, finden in der Schweiz auch ihr Publikum. Überrascht Sie das?

Überhaupt nicht! Aber nicht jeder Komiker, der grosse Säle füllt, ist ein Brachialkomiker. Divertimento füllen mit einem tollen Programm auch Riesensäle. Andererseits finde ich einen Saal mit 400 bis 700 Plätzen viel schöner als ein Hallenstadion.

Zirkus ist mit Hallenstadion vergleichbar, nicht wahr?

Zirkus ist keine Comedyshow, sondern eben Zirkus, d. h. eine Liveshow mit den unterschiedlichsten Elementen.

Die letzte Gala im Casino war auch eine glamouröse Show mit viel Prominenz.

Ja, aber es waren nicht die üblichen Berufspromis, sondern Persönlichkeiten aus Kultur und Wirtschaft, die unser Haus unterstützen.

Es gab Austern auf dem Buffet und Herren im Smoking. Ist das Casinotheater unser Hollywood?

Viele Smokings habe ich nicht gesehen. Ist mir auch egal – wir sagen den Gästen: «Be beautiful but be yourself.» Immerhin haben wir den roten Teppich weggelassen. Der wird mittlerweile bei jeder Nagelstudio-Eröffnung ausgerollt.

Ihre Freundin Barbara Josef war auch da, ihr Kleid wurde aber in keiner Klatschkolumne abgebildet. Darf sie nicht fotografiert werden?

Das hat sie selber zu entscheiden. Wir finden beide die üblichen Eventfotos mit grinsenden Pärchen recht bescheuert. Sie ist übrigens nicht im Hauptamt meine Freundin, sondern Pressesprecherin von Microsoft Schweiz. Das musste ich kürzlich einer Klatschkolumnistin klarmachen.

Im Film sagt Roger Schawinski, wenn Deutschland und die Schweiz ein Land wären, hätte Christoph Blocher endlich die Heimat, die seinem Ego entspricht. Trifft das auch für Sie zu?

Nein. Ich hatte nie Deutschlandambitionen. Mir scheint das nicht einmal erstrebenswert, dort auf Tournee zu gehen: lange Reisen, schlechte Gagen. Muss nicht sein.

Aber als der Jugendsender Joiz einen Moderator für seine Berlinexpansion suchte, haben Sie sich per Twitter beworben.

Sie sollten meine Tweets nicht so ernst nehmen. Mir ist übrigens der experimentierfreudige Sender sympathisch.

Sie schauen ihn?

Nein. Ich bin ja nicht das Zielpublikum. Mit 61 . . .

Genau, 61 und nicht 84, wie Mike in der letzten Sendung behauptet hat. Bis zu welchem Alter machen Sie noch «Giacobbo/Müller»?

Ich habe noch nie Karriereplanung gemacht. Wir entscheiden nach Gefühl immer auf ein Jahr voraus. Ein Jahr machen wir sicher noch.

Wie gut sind Sie und Mike Müller tatsächlich befreundet?

Unsere Partnerinnen sagen, dass wir wie ein altes Ehepaar miteinander telefonieren.

Wie oft ist das?

Es gibt wenige Tage, an welchen wirs nicht tun.

Was wird da besprochen?

News, Komik, Tiere . . .

Haben Sie Tiere?

Ich hatte mal zwei Katzen.

Also ein Katzen-, kein Hundemensch wie Mike?

Nein, einen Hund hätte ich auch gern. Einen solchen, wie er am Schluss im Film vorkommt, der Hund des amerikanischen Botschafters.

Wird Ihr Film in Deutschland auch gezeigt werden?

Vielleicht läuft er mal als Kuriosität in einem kleinen Kino oder in der Schweizer Botschaft. Eine hochdeutsche Tonspur meines Textes habe ich schon aufgenommen.

Was sollen Zuschauer nach der Premiere sagen?

«Ich habe mich anderthalb Stunden gut amüsiert, und zwar nicht unter meinem Niveau.»

«Der grosse Kanton»

Deutschland als der 27. Kanton der Schweiz? Diesem Gedankenspiel widmet Viktor Giacobbo seinen neuen Kinofilm, den er gemeinsam mit Vega Film und ohne öffentliches Geld produziert hat (Budget: 800 000 Franken). Der Komiker spricht über eine Zusammenlegung beider Länder mit Schlüsselfiguren der deutsch-schweizerischen Politik und Kultur. Weil diese ihrerseits komödiantische Talente offenbaren (köstlich: Peter von Matt, der «Tiefenminarette» fantasiert), funktioniert der Film sehr gut als eine leichtfüssige Gedankenblase. Auftritte von befreundeten Kabarettisten wie Gerhard Polt, Mike Müller und Michael Finger ergänzen den Spass.

Ab 16. 5. in den Kinos

Was wäre wenn: Stimmen zum Anschluss

Michael Ringier, Verleger

«Ringier hat ja auch nach Ungarn und nach Tschechien expandiert, wir sind mit unserer Strategie den Habsburgern gefolgt»

Philipp Müller, FDP-Chef

«Wir kaufen jetzt den Gripen und fräsen ein bisschen entlang dem Bodensee, machen ein wenig Krawall, und dann haben die Deutschen auch den Stink in der Hose»

Doris Leuthard, Bundesrätin

«Mit einem Beitritt zur Schweiz hätte Deutschland natürlich gerade auf einen Schlag das Problem der Eurokrise gelöst»

Joschka Fischer, EX-Aussenminister

«Mit der Kavallerie hatten die Schweizer Bauern nie ein Problem. Die burgundische Kavallerie ging jämmerlich zu Grunde, und Karl dem Kühnen wurde der Kopf abgehauen»

Roger Schawinski, RadioBesitzer

«Die Deutschen bekommen ein bisschen Tessin, wir bekommen Sylt, ich glaube, es geht für alle auf»

Cem Özdemir, Deutscher Grüner

«In einer gemeinsamen Republik werden wir den Regionalflughafen Zürich gar nicht mehr benötigen, das macht man dann alles über Berlin und Frankfurt»

Elke Heidenreich, Literaturpäpstin

«Es heisst nicht Fränkli? Aber es heisst doch Leckerli? Na ja, ihr seid ein putziges, kleines Bergvolk, ich verstehe euch nicht immer richtig»

Natalie Rickli, SVP-Nationalrätin

«Das ist doch normal, dass man ins Ausland geht, auch für eine SVP-Politikerin»

«Wer über sich selbst lacht, macht das einzig Richtige»

28. April 2013, SonntagsZeitung, von Ewa Hess

Viktor Giacobbo über die prominenten Darsteller in seinem neuen Film, Einschaltquoten und Partner Mike Müller Im Foyer des Casinotheaters Winterthur […]

Warum der «Ernstfall in Havanna» zum Glücksfall wurde

 

Wenn der Chefsatiriker des Landes zum ersten Mal auf der Leinwand zu sehen ist, zittern alle ein bisschen. Die Giacobbo-Fans vor Neugierde: Spielt er da mehr den Hasler oder den Rajiv? Die Cinéphilen vor Misstrauen: Wird das ein Film oder eine Reihe von Kabarettnummern? Und natürlich sind die Ängste der Produzentin Ruth Waldburger bei einem solchen Prestigeprojekt ebenso gross wie ihre Hoffnungen.

Nach der Mittwochpremiere von «Ernstfall in Havanna» also das Aufatmen: Experiment gelungen! Viktor Giacobbo ist in seinem ersten Kinofilm weder Hasler noch Schawinski, überhaupt Niemandes Karikatur, sondern der Botschaftsangestellte Stefan Balsiger, eine echte Filmfigur mit mehr als einem Charaktermerkmal im darstellerischen Köcher. Schon ganz am Anfang des Films entzückt eine Tanzszene: Der Balsiger, fiebrig erwartungsvoll, tänzelt aus dem Bett ins Bad, kleine Schrittchen auf den Zehenspitzen, nach links, nach rechts, und schwupps um die eigene Achse, ein lächerlich rührender Schmalspur-Travolta in karierten Boxershorts. Nur jene, die auf eine beissende Politsatire im Stil von «Viktors Spätprogramm» hofften, werden den ganz hämischen Giftzahn des Kabarettisten missen.

Es gibt viel zu lachen, doch «Ernstfall in Havanna» ist kein Klamauk

Der Handlungsknoten ist schnell geknüpft: Der kleine Mann Balsiger hat grandiose Gelüste. In der kleinen Schweizer Botschaft auf Kuba will er auf Grandseigneur machen, mit Zigarre und weissem Leinenanzug. Die Gelegenheit bietet sich, sobald sein Chef auf Dienstreise nach Bern abrauscht. Noch während Balsiger der Schweizer Fotografin Bea (Sabina Schneebeli) für eine People-Story posiert, nimmt Unheil seinen Lauf. Ein echter Grosskotz kommt an, US-Senator Russel.

Der Film gibt nicht vor, das Komödiengenre neu erfinden zu wollen. Wozu auch? Der kleine Mann, die ehrgeizige Journalistin, der gutmütige, wenn auch trottlige Sicherheitsbeamte, die heiss-blütige Kubanerin – das ist eine erprobte Klamauk-Besetzung, die selten ihre Wirkung verfehlt. («Die Schweizermacher» waren da eigenständiger mit den übereifrigen Einwanderungsbeamten, denn darauf mussten die Amerikaner erst kommen, was sie auch taten, 1990, mit «Green Card»). Doch nicht umsonst heisst der Film «Ernstfall in Havanna». Es gibt viel zu lachen – reiner Klamauk ist er aber nicht.

Obwohl das Drehbuch von Viktor Giacobbo stammt (und von Domenico Blass, der auch schon «Viktors Spätprogramm» mit seinem Witz alimentierte), und obwohl der Film stark von der Hauptfigur Balsiger lebt, ist die Handschrift der Regisseurin Sabine Boss unverkennbar. Die 35-jährige Absolventin der Zürcher Filmklasse hat mit ihrem Debutfilm, der TV-Produktion «Studers erster Fall», auf sich aufmerksam gemacht. Schon in dieser eigenwilligen Umsetzung des Romans «Matto regiert» von Friedrich Glauser hat Boss ein eigenwilliges Tempo vorgegeben und ihrer Hauptfigur, der weiblichen Kommissarin Studer, eine leicht verschrobene Ernsthaftigkeit verliehen. Ähnliche, zutiefst helvetische Widerborstigkeit vermochte die junge Regisseurin auch in Santo Domingo in Szene zu setzen, wo «Havanna» – in Ermangelung der Dreherlaubnis auf Kuba – entstand.

Die bedächtige Sprache überhöht die Geschwindigkeit der Ereignisse

Wer eine Knall auf Fall geschnittene Screwball Comedy erwartet, wird also zunächst enttäuscht. Flotte Salsa (Musik: Balz Bachmann, Peter Bräker) macht Stimmung, der Film nimmt sich aber Zeit. Das Unvermeidliche entrollt sich erst gemächlich und Charaktere, die man meint, sofort durchschaut zu haben, werden sorgfältig installiert. Die Fotografin verrät bei ihrer Ankunft im Flughafen ihre rebellische Ader. Der Botschafter zeigt bei der Instruktion der Subalternen den keinesfalls partizipativen Führungsstil. Und der naive Grössenwahn Balsigers verrät sich in der Szene mit dem amerikanischen Diplomatenkollegen Claiborne: «Sorry», sagt dieser, «verlass mein Büro, ich habe einen Anruf aus Washington», worauf Balsiger antwortet: «I know what you mean», und dann, bedeutungsvoll «Berne».

Sobald sich die Ereignisse nach der Ankunft Russels überschlagen, gewinnt der Film an Tempo. Nur in der Art, wie die Schweizer Englisch und Spanisch sprechen, hallt die bedächtige Langsamkeit nach. Die als langsam eingeführten, langsam sprechenden Figuren sehen sich plötzlich einer Kaskade von Ereignissen ausgesetzt, die sie überfordert. Dadurch, dass Sabine Boss diesen Kontrast in die Struktur des Films einbaut – zuerst langsam und dann immer schneller – gibt sie dem komödiantischen Stoff eine solide Basis. So wirken die Figuren viel glaubwürdiger.

Die Charakterisierung, wie man nach «Studers erster Fall» und nun dem «Ernstfall» bemerkt, gehört zu den grossen Stärken der Regisseurin, die an deutschen Theatern ihr Knowhow in Schauspielerführung übte. Auch wenn Sabina Schneebeli in der Rolle der Fotografin etwas blass bleibt, begeistern schauspielerische Leistungen bis in die Nebenrollen hinein – Mike Müller etwa als Sicherheitsbeamter Rüegg, Daniel Rohr als Bundesratsassistent Thomas Fröhlicher oder Jean-Pierre Cornu als Bundesrat Hitz – Cornu ist dazu dem amtierenden Bundesrat Deiss täuschend ähnlich.

Die Regisseurin erzählt, dass während der Dreharbeit sie und Viktor Giacobbo viel zu streiten hatten – trotz, oder gerade wegen der grundsätzlich vorhandenen Sympathie. Als Zuschauer ist man froh um diese Auseinandersetzung: «Ernstfall in Havanna» ist dadurch kein eindimensionales Starvehikel geworden, sondern ein echter Schweizer «Glücksfall in Havanna». Auch wenn es die Dominikanische Republik war.

Balsiger kennt kein Tempolimit

10. März 2002, SonntagsZeitung, von Ewa Hess

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2017